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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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ihrer eigenen Kompositionen. Ein Teil der Sammlung hat allerdings dank Sarah Abrahams überlebt, die das musikalische Erbe ihrer Schwester für die Geschichte des Jazz gerettet hat.
    Das Spiritual, dem wir Sie nun bitten Beachtung zu schenken, ist eines der letzten Werke von Gloria Abrahams. Geschaffen unmittelbar vor dem Verschwinden der Sängerin, gilt es zu Recht als eines der lyrischsten und sozialkritischsten Beispiele des Jazz-Chorgesangs, und die Melodie, die ihm zugrunde liegt, wurde immer wieder von weltbekannten Musikern gespielt, so von Chet Baker und Charlie Bird Parker.
    *
    Wer steht an Pier und Mole und begleitet die Sonne ?
     
    Wir, o Herr, Fischer und Arbeiter, nach erschöpfender Arbeit
    treten wir aus den alten Werften,
    stehen am Ufer und singen dem Flusswasser nach,
    das uns für immer verlässt.
     
    Wovon singen die Männer an solchen stillen Abenden ?
     
    Wir erinnern uns, Herr, an unsere Städte und beweinen sie.
    Wir hängen unsere Gitarren und Trompeten an die Bäume und steigen in den Fluss.
    In den warmen Wellen stehend, singen wir dem grünen Wasser nach,
    das an uns vorüberfließt.
    In den warmen Wellen stehend, singen wir dem Leben nach,
    das uns durch die Finger rinnt.
     
    Und wenn euch Vorübergehende bitten, für sie zu singen, was werdet ihr antworten ?
     
    Wir werden antworten: Unsere Stimmen sind bitter wie Gefängnistee.
    Der Jazz presst unsere Herzen aus wie marokkanische Orangen.
    Unser Gesang ist nichts als Erinnerung
    an die heißen Viertel, die wir verließen, nur ein Schrei nach Wasser,
    das zerfließt.
    Und wenn wir unsere Häuser vergessen – wovon sollten wir dann singen ?
     
    Zur Erinnerung sagen wir – bleib bei uns, lass uns nicht allein.
    Wir singen von Banken und Geschäften, zerstört von der Zeit,
    von Läden und Lagern voller Stoff.
    Von unseren Frauen, für die wir zu sterben bereit sind,
    und unseren Kindern, die in unsere Werkhallen kommen und unseren Platz bei der Arbeit einnehmen.
     
    Wir sind alle durch Flüsse verbunden, die durch unsere Vergangenheit fließen.
    Und unsere Frauen stehen mit uns an den Ufern.
    Zur Mittagspause tritt der Prophet Zacharias aus der Werkhalle,
    wischt sich den Schweiß der Arbeit ab, klirrt mit Nägeln
    und Scheren in den Taschen seines Overalls,
    von seinen schwarzen Händen wäscht er Öl und Kohlenstaub.
    Pause von der Arbeit machen und in den Himmel blicken,
    Ausruhen vom schweren, nützlichen Werk.
     
    Bleib uns in Erinnerung, Stadt, aus der wir fortgebracht wurden in alten Waggons.
    Wer dich vergisst, verliert seine Ruhe auf ewig:
    sie alle werden verschwinden mit ihrem gebrochenen Herzen.
     
    Es ist so leicht, die Vergangenheit zu teilen.
    Das Leben ist eine Maschine, für uns gemacht,
    und wir wissen, dass man sie nicht fürchten muss.
    Goldene Werkshallen öffnen die Tore für uns.
    Der hohe Himmel schwimmt über unseren Schulen und Geschäften.
    Was uns erwartet, ist Leere und Vergessen,
    was uns erwartet, ist Liebe und Erlösung.

8
    Dunkle Anzüge, weiße Hemden, abgestoßenes zuverlässiges Schuhwerk. Auch ihre Autos sind so – abgestoßen und zuverlässig. Mercedes und Volkswagen. Die Begräbnismannschaft in voller Stärke. Ich ging am Hangar vorbei, kam zur Startbahn und konnte sie nicht übersehen. Sie standen bei ihren Autos wie Taxifahrer am Bahnhof. Rauchten und schwatzten von unwichtigen Dingen.
    – Hey, Gadjo! – rief mich Pascha, Kotschas Verwandter. Und alle anderen gerieten ebenfalls in Bewegung: – Hallo, Gadjo, du kommst spät.
    Ich trat zu ihnen und begrüßte jeden einzeln. Zuerst Pascha, der in jeder Hand ein Telefon hielt, dann den dicken Bormann, dem über den Sommer das rote Haar lang gewachsen war. Dann Arkadij, Prochor und die anderen aus der Kirche – ehrliche Gemeindemitglieder mit besten Absichten, die in schwarzen Sakkos mitten auf der Startbahn standen, wie Hochzeitsgäste, die zwischen zwei Tänzen draußen eine rauchten. Ich begrüßte auch Ernst, der entschlossen aussah und dem Bräutigam glich – die ganze Sache gefiel ihm offenbar nicht, obwohl er sie doch vermutlich selbst angezettelt hatte. Als Letzten begrüßte ich Schura, neben dem ich stehenblieb. Schura schwieg, es war zu spüren, dass er sich mit so einer Brigade im Rücken sicher fühlte. Er trug einen schwarzen Blouson, leicht und bequem, gerade richtig für Krawall und Randale. Er fasste mich am Arm.
    – Du hast einen Brief bekommen, – sagte er und zog einen zweimal gefalteten Umschlag aus der Tasche.

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