Die Erfindung des Jazz im Donbass
musikalischen Improvisationsquelle. In kurzer Zeit schuf Gloria einige Werke, die später in den goldenen Schatz der Spirituals eingingen.
Ende April zogen die Schwestern von Mariupol nach Jusiwka um. Sarah Abrahams schreibt darüber Folgendes: »Die Stadt, die mit ein- und zweistöckigen Häusern bebaut war, zeichnete sich durch schicke Geschäfte, Restaurants, Büros und Banken aus. Die erstklassigen Hotels »Great Britain« und »Grand Hotel« zogen Ströme von Geschäftsleuten an, die vor allem aus Belgien und Großbritannien stammten und hier schnell reich werden wollten. Ein echter Klondike River für westliche Geschäftsleute, die in ihrer Heimat keine Perspektive mehr für sich sahen. Wir erhielten ein Cottage der Neurussischen Kompanie zugewiesen, wo sonst Meister, Ingenieure und die britischen Spezialisten wohnten. Die Kinos »Colosseum« und »Saturn« waren abends mit einem bunten, lärmenden Publikum gefüllt, das neue Kleider zur Schau stellte, die aus den Häfen Amerikas oder Japans stammten. Die Arbeiter aber gaben den Teestuben den Vorzug, den öffentlichen Bibliotheken, Bädern und am Wochenende den Kirchen und zahlreichen Gebetshäusern. Unsere Konzerte wurden freundlich aufgenommen, und man brachte uns gegenüber Solidarität mit der Arbeiterklasse der Vereinigten Staaten von Nordamerika zum Ausdruck.«
Was genau die osteuropäischen Arbeiter an den ungewohnten Negerrhythmen fasziniert hat, darüber kann nur spekuliert werden. Vielleicht lag es daran, dass die Abrahams-Sisters in ihren Spirituals auch vom Leben in den Proletariervierteln Amerikas erzählten, von den arbeitenden Menschen und ihren Alltagsnöten. Die Gefühle, von denen die nordamerikanischen Jazzkünstlerinnen sangen, waren einem breiten Arbeiterauditorium nahe und verständlich. Die Popularität der Schwestern stieg, sie wurden zu gefragten Gästen der Gewerkschaftsklubs und Sonntagsgottesdienste. Die Methodistenkirche entdeckte in ihnen großartige Werber für die Ideen dieser Konfession, und der Jazz erzielte einen weiteren klaren Sieg, diesmal bei einem ganz neuen und völlig unvorbereiteten Publikum.
Aber schon im Sommer begannen die Probleme. Erstens meldeten sich die russischen Anarchisten, die sich eine Weile still verhalten hatten, und äußerten den Schwestern gegenüber den Wunsch, endlich die an sie übersandte Summe in Empfang nehmen zu können. Ganz unerwartet weigerten sich die Schwestern, den Revolutionären das ihnen zugedachte Geld zu übergeben. Besonders vehement sprach sich Maria de los Mercedes gegen die Geldübergabe aus. Sie war es, die Gloria überredete, die Säcke mit den amerikanischen Dollars in der Wohnung eines der Chorherren der örtlichen lutheranischen Kirche zu verstecken. Und sie war es auch, die zu liquidieren sich die düpierten Anarchisten entschlossen, um die Schwestern einzuschüchtern. Marias Körper wurde in den Lagerhallen der Neurussischen Kompanie gefunden. Gloria verstand, dass die Revolutionäre es nicht dabei belassen würden. Außerdem verkündete Sarah Abrahams, dass sie schwanger sei, nachdem sie schon seit einiger Zeit enge Beziehungen zum Direktor der städtischen Dampfbadeanstalten gepflegt hatte. Taub für die Ratschläge ihrer Schwester und der Kirchenadministration, das ungewollte Kind loszuwerden, kehrte Sarah mit einem Dampfer der besagten Russisch-Kleinasiatischen Dampfschifffahrtsgesellschaft nach Amerika zurück. Die Vierte im Chor, Barbara Carrol, begleitete sie.
Allein im fremden Land zurückgeblieben, kündigt Gloria an, aus den Reihen der Gläubigen neue Sänger rekrutieren zu wollen. Außerdem will sie die gesamte in Amerika erhaltene Summe an die Vertreter der anarchistischen Organisationen übergeben. Zum vereinbarten Zeitpunkt kauft sie eine Fahrkarte nach Rostow, wo die Geldübergabe stattfinden soll, steigt in Begleitung einiger lokaler Untergrundkämpfer in den Zug und reist in östliche Richtung ab. Aber in Rostow kommt sie nie an. Im Zug ist sie nicht, alle Versuche der Mittelsmänner, die sie abholen sollten, herauszufinden, was mit der Sängerin passiert ist, sind vergebens – weder der Zugbegleiter, noch die Mitreisenden können eine Erklärung geben. Sämtliche Versuche der Kampfgruppen, eine Spur von Gloria Abrahams zu finden oder wenigstens etwas über das Schicksal des Geldes in Erfahrung zu bringen, blieben erfolglos – die Frau war im schwarzen Loch der Donezker Eisenbahn spurlos verschwunden, zusammen mit den Dollars und den Manuskripten
Weitere Kostenlose Bücher