Die Erfindung des Jazz im Donbass
Hand.
– Hi. Was ist los hier?
– Siehst ja selber, – er zeigte mit dem Kopf Richtung Landstraße. – Und jetzt ist auch noch dein Bruder weg.
– Und warum ist er weg?
– Was weiß denn ich, – antwortete Schura schroff. – Hatte die Schnauze voll und ist weg. Ich fahre auch. Reparier noch den Vergaser für so einen Arsch aus Kramatorsk, und dann nix wie weg. Absolut, – finster blickte er sich um, doch als er niemanden entdeckte, dem das gelten könnte, machte er kehrt und ging in die Werkstatt.
*
Ich wunderte mich nicht über seine schlechte Laune. Der Versehrte war ständig mit allem unzufrieden. Als wäre er immer darauf aus, sich mit jemandem anzulegen. Was wohl eher eine Schutzhaltung war. Der Versehrte war eine lebende Legende, der beste Torschütze in der Geschichte des Breitensports in unserer Stadt. Anfang der Neunziger spielten wir in derselben Mannschaft, obwohl er etwa zehn Jahre älter war als ich. Den Abschied vom Sport hat er nur schwer verkraftet – der Versehrte wurde verbittert und fett. Klein wie er war, glich er mit seinem stutzerhaften Schnurrbart und dem ansehnlichen Bauch weniger einem Stürmer als dem Masseur der Mannschaft. Oder einem Fußballkommentator. Nachdem er ein neues Leben angefangen hatte, galt er bald als einer der besten Mechaniker, wollte aber bei niemandem anheuern, nur meinem Bruder war es gelungen, sich mit ihm zu einigen; er machte den Versehrten zu seinem Partner, mischte sich nicht in seine Angelegenheiten und interessierte sich wenig für seine Probleme. Dem Versehrten war das recht. Er kam und ging, wie es ihm gerade passte, und machte, was ihm gefiel. Er hatte aber eine weitere Leidenschaft, der er sich in seiner Freizeit hingab. Schon während seiner Stürmerkarriere hatte der Versehrte ein übermäßiges Interesse an Frauen entwickelt. Deswegen heiratete er auch nicht, denn wen sollte er heiraten, wenn er gleichzeitig mit sechs Frauen schlief? Interessanterweise
wurden es nach dem Ende seiner Sportkarriere nicht weniger. Eher im Gegenteil – das Alter verlieh dem Versehrten einen gewissen Charme, und diese merkwürdige Aura des vierzigjährigen fetten Weiberhelden kultivierte er sorgsam. Die Frauen beteten ihn an, und der Schweinehund wusste das. In der Brusttasche seines schneeweißen Hemdes steckte ein Blechkamm, mit dem er ab und zu seinen Schnurrbart richtete. Er hatte immer Rasierwasser dabei und Kassetten mit romantischen Melodien, »Musik der Liebe«, wie er es nannte. Manchmal bekam der Versehrte von den gehörnten Ehemännern für sein unmoralisches Verhalten eins auf die Mütze. Dann schloss er sich in der Werkstatt ein, blieb tagelang dort und drehte an irgendwelchen Schrauben herum. Er war gutmütig, nur etwas verklemmt, vielleicht pöbelte er deswegen immer alle an. Ich hatte mich an diese Art gewöhnt.
*
Jetzt aber hatten irgendwelche Arschlöcher sich Kotscha vorgenommen, und wäre der Versehrte nicht aufgetaucht, dann hätten sie womöglich versucht, sich auch mich, den Eigentümer, vorzunehmen. Denn ich war es, der offiziell als Eigentümer galt. Aufgrund unbestimmter Ahnungen hatte mein Bruder Juri bereits vor fünf Jahren vorausschauend alles mir überschrieben. Wir vertrauten einander. Er wusste genau, dass ich seinem Business, selbst wenn ich gewollt hätte, nicht ernsthaft schaden konnte, deswegen bat er mich, mir keine Sorgen zu machen und einfach nur meine Unterschrift an die entsprechenden Stellen zu setzen. Später lernte er, meine Unterschrift zu fälschen, und so hatte ich keine Ahnung, wie das Geschäft lief, welche Steuern er zahlte und wieviel Gewinn er machte. Das waren seine Probleme, und was mich anging, so hatte ich bis vor kurzem einfach gar keine gehabt. Jetzt stellte sich plötzlich heraus, dass ich in Wirklichkeit jede Menge davon hatte, also Probleme, und die mussten irgendwie gelöst werden. Natürlich hätte ich auf alles scheißen können. Und auch nach Amsterdam abhauen. Am schlimmsten war, dass mein Bruder nichts gesagt hatte. Ich hatte nicht den leisesten Schimmer, wie es jetzt weitergehen sollte. Noch vor wenigen Tagen galt ich als freier und unabhängiger Experte, der Gott weiß gegen wen für die Demokratie kämpfte, und nun hatte ich Eigentum am Hals, mit dem etwas geschehen musste, weil mein Bruder nicht da war und niemand meine Unterschrift fälschen konnte.
Nach Hause würde ich es heute sowieso nicht mehr schaffen. Es war besser, Lolik anzurufen und ihm Bescheid zu sagen. Ich betrat das
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