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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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wirst du auch wegfahren?
    – Willst du denn, dass ich bleibe?
    – Du kannst mir gestohlen bleiben, – sagte das Mädchen bedächtig.
    – Hast du denn keine Angst hier allein?
    – Nein, – sagte sie. – Und jetzt geh. Sonst lass ich den Hund auf dich los.
     
    Ich ging zum Tor und blieb stehen. Hinter dem Fenster folgte sie mir mit den Augen. Ich winkte. Als sie verstanden hatte, dass sie entdeckt war, lachte sie und winkte zurück. Dann zog sie mit einer schnellen, überraschenden Bewegung ihr Oberteil hoch und zeigte alles, was sie dort hatte. Schon im nächsten Augenblick war sie verschwunden. Ich traute meinen Augen nicht und wartete, dass sie wieder auftauchte. Aber sie kam nicht. Was für ein seltsames Mädchen, dachte ich und ging zurück zur Tankstelle.
    *
    Der Arbeitstag war in vollem Gang. Kotscha saß zurückgelehnt im Schleudersitz, die rechte Hand zwischen die dürren Beine geklemmt, und schlief den Schlaf des Gerechten. Ich ging in die Werkstatt. Mit nacktem Oberkörper, schweißgebadet und sauer auf die ganze Welt umkreiste der Versehrte das aufgehängte Autoteil und stieß sich ab und zu seinen Bauch daran. Als er mich bemerkte, winkte er, wischte sich den Schweiß von der Stirn und beschloss, eine Zigarettenpause zu machen.
    – Hast du jemanden erreicht?
    – Ja. Morgen fahre ich zurück.
    – Aha, – der Versehrte blickte mich streng an.
    – Schura, – wechselte ich das Thema. – Was ist das für eine Zehntklässlerin da oben auf dem Sendeturm?
    – Katja? – Schuras Augen bekamen sofort einen warmen und träumerischen Ausdruck, auf seinen dicklichen Lippen tauchte ein väterliches Lächeln auf. – Was hat sie gesagt?
    – Nichts. Ein braves Mädchen. Bescheiden.
    – Halte dich von ihr fern, sagte Schura sanft. – Sonst setzt’s was.
    – Arbeitet sie dort?
    – Ihr Vater. Sie bringt ihm das Essen.
    – Ein richtiges Rotkäppchen.
    – Was?
    – Nichts.
    – Hermann, – fragte der Versehrte plötzlich. – Was bist du von Beruf?
    – Unabhängiger Experte, – antwortete ich.
    – Und was machst du da so?
    – Wie soll ich es dir erklären? Eigentlich nichts.
    – Weißt du, Hermann, – der Versehrte schaute mich an. – Ich glaub dir nicht. Sei mir nicht böse, ich sag, was ich denke.
    – Schieß los.
    – Ich glaub dir einfach nicht. Du wirst uns im Stich lassen. Weil dir das alles hier am Arsch vorbeigeht. Auch Kotscha geht es am Arsch vorbei. Du weißt nicht mal, was du beruflich machst. Dein Bruder – der ist ganz anders.
    – Und warum ist er dann abgehauen?
    – Ist doch egal.
    – Überhaupt nicht egal. Wer war das, die mit dem Jeep?
    – Schiss?
    – Warum sollte ich Schiss haben?
    – Doch, du hast Schiss, das seh ich. Und Kotscha hat auch Schiss vor ihnen. Alle haben Schiss vor ihnen. Nur dein Bruder nicht.
    – Was hast du dauernd mit meinem Bruder?
    – Ach lass, nichts für ungut, – der Versehrte zog seine Jacke über und machte sich wieder an die Arbeit. Startete einen Motor. Es lärmte in den Ohren.
    – Schura! – rief ich. Er hielt inne und schaute in meine Richtung, stoppte den Motor aber nicht. – Ich habe keine Angst. Wovor sollte ich Angst haben? Es ist einfach so, dass ihr euer Leben lebt, und ich meins.
    Der Versehrte nickte zustimmend. Vielleicht hatte er mich aber auch einfach nicht gehört.
    *
    Am Abend winkte uns Schura zum Abschied, als er nach Hause fuhr. Kotscha saß immer noch im Schleudersitz, bedeckt mit orange-blauem Abendstaub, er lag in einem seltsamen Halbschlaf, aus dem ihn weder die Abfahrt des Versehrten herausreißen konnte noch die in regelmäßigen Abständen wiederkehrenden Forderungen der Fernfahrer, ihre Laster zu betanken. Der Versehrte zeigte mir, wie eine Zapfsäule funktioniert, und ich füllte, so gut ich konnte, Diesel in drei Riesen- LKW s, die schweren, müden Eidechsen glichen. Irgendwo hinter der Landstraße ging die Sonne unter, und die Dämmerung entfaltete sich wie eine Sonnenblume. Mit ihr erwachte auch Kotscha. Gegen neun stand er auf, sperrte das Kassenhäuschen zu und tappte erschöpft über den Platz. Mit schwerem Seufzen und tieftraurig strich er um das Fahrerhäuschen herum, in dem ich letzte Nacht geschlafen hatte, zwängte sich dann hinein, legte sich in den Fahrersitz und streckte die Beine durch die leere Frontscheibe nach draußen. Ich schlüpfte auch hinein und setzte mich neben ihn. Das Tal vor uns versank in Dunkelheit. Im Osten füllten sich die Himmel bereits mit Schwärze, von Westen, direkt über

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