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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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Papier. Sie war fast so alt wie mein Bruder, sah aber noch ziemlich gut aus, mit ihrem lockigen roten Haar und der kreidefarbenen, wie von innen erleuchteten Haut. Sie verwendete kaum Make-up, vielleicht war es das, was sie jünger machte. Sie trug ein langes Stoffkleid, an den Füßen weiße Markenturnschuhe. Sie saß auf den Dokumenten und rauchte.
    – Hi, – grüßte ich.
    – Guten Tag, – mit der Hand wedelte sie den Rauch weg und betrachtete mich von Kopf bis Fuß. – Du bist Hermann?
    – Kennst du mich?
    – Schura hat mir gesagt, dass du kommst.
    – Der Versehrte?
    – Ja. Setz dich, – sie stand von ihren Papieren auf und zeigte auf einen Stuhl am Tisch.
    Sofort geriet der Stapel ins Rutschen. Ich wollte mich bücken, um die Papiere aufzuheben, aber Olga hielt mich zurück:
    – Lass, – sagte sie, – kann liegen bleiben. Gehört schon lange in den Müll.
    Sie setzte sich in ihren alten, kunstlederbezogenen Stuhl, legte die Beine auf den Tisch, wie Cops im Kino, und zerknitterte mit den Turnschuhen Berichte und Formulare. Für einen Moment öffnete sich ihr Rock. Sie hatte schöne Beine – lange dünne Schenkel und hohe Hüften.
    – Wo schaust du hin? – fragte sie.
    – Auf die Formulare, – antwortete ich und setzte mich ihr gegenüber. – Olga, ich muss mit dir reden. Hast du eine Minute Zeit?
    – Sogar eine Stunde, – antwortete sie. – Du willst über deinen Bruder reden?
    – Genau.
    – Alles klar. Weißt du was? – Sie zog ruckartig die Beine an, wieder blitzten die Schenkel vor meinen Augen auf. – Lass uns in den Park gehen. Hier ist es zu schwül. Bist du mit dem Auto da?
    – Per Anhalter, – antwortete ich.
    – Kein Problem. Ich hab einen Roller.
     
    Wir gingen hinaus, sie schloss mit dem Vorhängeschloss ab, setzte sich auf den Roller, der beim dritten Versuch ansprang. Sie nickte mir zu, ich setzte mich und fasste sie leicht um die Schultern.
    – Hermann, – überschrie sie den Motor und drehte sich zu mir um, – bist du schon mal Roller gefahren?
    – Ja, – schrie ich zurück.
    – Und weißt du, wohin man die Hände legt?
    Peinlich berührt nahm ich die Hände von ihren Schultern und fasste sie um die Taille, wo ich unter dem Kleid die Unterwäsche spürte.
    – Schön ruhig bleiben, – riet sie mir, und wir fuhren los.
    Der Park lag gegenüber, man musste bloß die Fahrbahn überqueren. Olga aber jagte die Straße hinunter, fuhr auf das Trottoir und tauchte in dichte Büsche ein, mit denen das Parkgelände bepflanzt war. Hier verlief ein Pfad. Gekonnt glitt Olga zwischen den Bäumen durch, und kurz darauf erreichten wir den Asphaltweg. Die Alleen waren sonnig und leer, hinter den Bäumen sah man Jahrmarktsattraktionen, Schaukeln, durch die junge Bäume wuchsen, einen Kinderspielplatz, aus dessen Sandkasten das Gras spross, Buden, wo früher die Tickets verkauft wurden und in denen jetzt Tauben schläfrig gurrten und Straßenköter sich versteckten. Olga umrundete den Brunnen, bog in eine Seitenallee ab, raste an zwei Mädchen vorbei, die ihre Dackel Gassi führten, und hielt an der alten Bar über dem Fluss. Die Bar gab es schon lange, Ende der Achtziger wurde in einem ihrer Räume, wenn ich mich recht erinnere, ein Tonstudio eröffnet, wo man Vinyl auf Band und Kassette überspielte. Ich überspielte mir hier, als ich noch Pionier war, Heavy Metal. Wie sich herausstellte, war die Bar noch in Betrieb. Wir gingen hinein. Ein ziemlich großer Raum, völlig von Nikotingeruch durchtränkt. Die Wände holzverkleidet, an den Fenstern schwere, an vielen Stellen von Zigarettenkippen durchlöcherte und mit Lippenstift beschmierte Vorhänge. Hinter dem Tresen stand ein Typ um die sechzig von zigeunerhaftem Aussehen: weißes Hemd und Goldzähne. Olga grüßte, er nickte zur Antwort.
    – Ich wusste nicht, dass es den Laden noch gibt, – sagte ich.
    – War selbst hundert Jahre nicht mehr hier, – erklärte Olga. – Ich wollte nicht im Büro mit dir sprechen. Hier ist es ruhiger.
    Der Zigeuner kam.
    – Haben Sie Gin Tonic? – fragte Olga.
    – Nein, – antwortete er stur.
    – Und was haben Sie? – fragte sie verwirrt. – Hermann, was nimmst du? – wandte sie sich an mich. – Sie haben kein Gin Tonic.
    – Und Portwein? – fragte ich den Zigeuner.
    – Weißen, – sagte der Zigeuner.
    – Nehm ich, – sagte ich. – Und du, Olga?
    – Na gut, – stimmte sie zu, – dann trinken wir eben Portwein.
     
    – Hast du deinen Bruder lange nicht gesehen?
    – Seit

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