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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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errichteten einen Bahnübergang. Sie arbeiteten als eingespieltes Team, nur selten ertönte ein kurzer Befehl, dann lief einer auf die andere Seite des Bahndamms und schleppte auf dem Rücken ein weiteres Brett herbei. Als die Spitze der Kolonne am Damm ankam, war der Übergang schon fertig. Der alte Lada rollte behutsam auf die Bretter, die Schatten kamen herunter, umstellten den Wagen und schoben ihn hoch. Dann fuhr er vorsichtig auf der anderen Seite des Damms wieder hinunter. Nach ihm kamen die Tanklaster. Einige fuhren leicht und problemlos hinüber, andere bremsten, dann wurden sie nach oben geschoben oder am Schleppseil gezogen. Es dauerte lange, aber allmählich schafften es sämtliche Fahrzeuge auf die andere Seite der Eisenbahnlinie. Von oben erinnerte das alles an ein merkwürdiges Militärlager, eine Panzerkolonne, die ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten aus Sorge, entdeckt zu werden. Die Tankwagenfahrer, die Begleiter im Lada, die Männer, die den Übergang gebaut hatten, und die Beifahrer in den Lastern versammelten sich nun alle im Kreis, sie standen zwischen den Wagen, setzten sich auf die Motorhauben ihrer SIL -Laster, legten sich zwischen die Räder, kletterten auf die Dächer, um alles sehen und hören zu können. Nachdem sie sich versammelt hatten, fingen sie an zu streiten, zu schreien und sich Vorhaltungen zu machen. Von den Tanklastern sonderte sich eine kleine Gruppe ab, die besonders heftig auftrat, sie fuchtelten mit den Händen und rissen sich die Pullover vom Leibe. Ihnen gegenüber stand eine andere Gruppe. Sie war schweigsamer und konzentrierter. Alle anderen warteten ab und waren sich nicht sicher, auf welche Seite sie sich schlagen sollten. Worüber sie stritten, war schwer zu verstehen, die Worte konnte ich kaum hören. Plötzlich holte einer von den Schweigsamen eine Pistole mit abgesägtem Lauf aus der Jacke und ballerte in den Himmel. Ich hockte mich instinktiv nieder und sah plötzlich etwas, was ich vorher nicht gesehen hatte. Schwarze Sterne fielen vom Himmel, durchstießen die dicke Luft und entzündeten das trockene Gras. Vögel kauerten sich zwischen die Stengel, um sich aufzuwärmen und vor den fremden Stimmen zu verbergen. Tiere wanderten über die Grenze und schauten vorsichtig ins mit Atem gefüllte Tal, wo plötzlich unzählige Schatten auftauchten, die über den hohen Damm in das fremde Land liefen, so, wie man im Sommer ins Meer läuft. Schlangen krochen auf die glänzenden Schienen, die im Mondlicht schimmerten, umwickelten sie und krochen in fremde Löcher, um sich dann im zähen Wurzelwerk zu verlieren. Spinnen liefen über den Sand hinauf, auf die andere Seite des Mondscheins. Rotfüchse fletschten die Zähne und näherten sich der Bahnlinie, um die letzte Hürde zu nehmen, die sie von unbekannten Territorien trennte. Krähen kreisten in der Höhe, fanden keinen Platz, wanderten über den Himmel wie Zigeuner über Bahnsteige, ohne sich zu setzen, in der Angst um ihre Stammplätze im Himmel. Ich sah, wie die Wurzeln hartnäckig durch den im Sommer ausgedörrten Boden sprossen, sie verlangten nach Wasser, das tief lag wie Magma. Ich sah die silbernen Wasseradern, die dünn dahinflossen, die Schwarzerde durchstachen und ins dunkle Ungewisse liefen, die Körper der Toten meidend, die hier weiß Gott wann und von wem begraben worden waren. Ich sah tief im Talkörper das schwarze Herz der Steinkohle, sah, wie es pochte und alles ringsherum mit Leben füllte, und wie die frische Milch des Erdgases in Höhlen und unterirdischen Flüssen zusammenfloss, dicker wurde und die zähen Wurzeln füllte, und wie durch diese Wurzeln Wahnsinn und Beständigkeit nach oben sprossen und die Grashalme gegen den Wind ausrichteten. Eine Böe fuhr mir ins Gesicht, ich kam zu mir und sah Bewegung in der Menge – drei Männer in langen Jacken fassten den lautesten Schreihals aus der anderen Gruppe, packten ihn an Händen und Füßen und schleppten ihn zum nächsten Tankwagen. Schleuderten ihn nach oben, wo ihn zwei andere auffingen. Der Mann versuchte zu entkommen, wurde aber mühelos überwältigt, sie rissen die Luke des Tanklasters auf und schmissen den Gefangenen hinein. Schlossen die Luke und sprangen zu Boden. Ich traute meinen Augen nicht. Was soll das, dachte ich, er wird ja ertrinken. Ich stellte mir einen Moment lang vor, wie er im blauen Benzinkompott wie im Bauch eines Wals umherschwamm und sich mit den Füßen von der eisernen Haut abstieß. Die Menge zerstreute sich rasch. Der

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