Die Erfindung des Jazz im Donbass
schlüpfte in die abgewetzten Stiefel und sprang in den Wagen. Wenn mir jemand gesagt hätte, wie die Sache ausgehen würde, wäre ich diese Reise vielleicht mit mehr Vorsicht angegangen, doch wer hätte wissen können, dass es so kommen und das ganze Unternehmen solche Folgen haben würde. Wenn du das Leben an der Gurgel packst, denkst du am allerwenigsten daran, was du dann mit ihm anfangen sollst.
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Ihr Gesang erinnerte daran, wie bei Olympischen Spielen die Nationalhymnen gesungen werden. Seelenvoll und einträchtig, wenn auch nicht ganz korrekt. Viele trafen nicht den richtigen Ton, doch die Freude, die in ihren Stimmen spürbar war, rechtfertigte alles. Mir kam sofort die Beerdigung von Tamaras Mutter in den Sinn: trotz Schmerz und Trauer, die eigentlich herrschen sollten, hatten dort alle die lebensbejahenden Hymnen gesungen, in denen sie dem Himmel dankten und für ihre Nächsten baten. Der Priester stand auf der Bühne und stimmte immer neue Verse an, die Gemeinde fiel fröhlich ein und pries den Schöpfer. Tamara und der Fahrer sangen hingebungsvoll mit. Ich fühlte mich wie ein Fußballer einer Nationalelf aus der Dritten Welt bei den Olympischen Spielen – ich öffnete den Mund und schnappte den Wortanfang, summte mit und spuckte das Ende laut aus. Wenn im Lied Worte wie »Frömmigkeit« oder »Seelenheil« vorkamen, konnte man auch meine Stimme vernehmen. Das Brautpaar stand in der ersten Reihe, rechts vom einäugigen Tolik, links vom Gemeindevorsteher flankiert.
Die Sätze, die sie aussprachen, wärmten ihre Gaumen, und beim Singen spuckten sie Glut und Feuer. Sie huldigten den goldenen Hängen Zions, die sich im Grün der Wälder unter dem frostigen Blau des Himmels verbergen. O Zion, riefen sie, goldenes Zion, Schrein unserer Leidenschaften, Steinkohle unserer Abende. Vierzig mal vierzig Jahre ziehen wir dir entgegen, unsichtbares Zion, wir fahren mit der Bahn, wir nutzen die Lastkähne, durchwaten die Furten, überqueren die Demarkationslinien. Und immer bleibst du fern und unerreichbar, o Zion, du entschlüpfst unseren Händen, lässt den Stamm Israel nicht ein. Tausend Vögel fliegen über uns, um uns den Weg zu dir zu weisen, o Zion. Tausend Fische schwimmen uns hinterher, um in deinen süßen Schatten zu gelangen. Eidechsen und Spinnen, Hunde und Hirsche wandeln auf unseren Pfaden. Die Löwen Judäas, mit Dreads und Sternen, beschützen unsere Nachtlager. Die Eulen stürzen in die Finsternis und verlieren sich in der unendlichen Wanderung. Wie lange müssen wir noch in dieser Gefangenschaft schmachten? Wie lange sollen wir uns noch an die Flüsse halten, die gen Süden strömen, in deine Nähe? Böse Bauern verscheuchen uns aus ihren Feldern wie Füchse. Blauer Regen flutet Häuser und Geschirr. Aber die dunkelroten Löwen unseres Wagemuts führen uns und kämpfen sich durch das schwärzliche Silber des Regens. Die Löwen der Freude und der Erkenntnis tragen unsere müden Kinder. Und irgendwo unter uns schreitet der König der Könige, unter Fischen und Säugetieren, den wir erkennen werden, sobald wir deine kostbaren Hügel betreten. Er kommt aus dieser Wüste, weicht den für ihn errichteten Barrieren aus und wandert auf den nächtlichen Wegen der Verzweiflung, um endlich zu dir zu gelangen. Gelbgrüne Vögel ziehen ihn an den Haaren empor, damit er die Täler der Dämmerung und Stille schauen kann. Rosabraune Wale verstecken ihn unter ihren Gaumen. Da schlägt er die Trommel, Tiere und Vögel zu sich rufend, und lehrt sie Geduld und Andacht. Jeder, der ihm zuhört, wird von nun an wissen, wie hart der Weg ist und wie frisch das Gras. Jeder, zu dem seine Worte gelangen, wird zu den Trommeln des Wahns die Hymne an dein Erscheinen, o Zion, singen, an dein tägliches Näherkommen. Hauptsache, dort hingehen, wo man auf dich wartet, ohne Umwege. Hauptsache, an das Ziel denken, das die Vorsehung für dich bestimmt hat und an die Menschen, die dich lieben, o Zion!
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Als sie mit dem Singen fertig waren, der Priester ein langes und emotionales Gleichnis über die Frömmigkeit erzählt hatte, das Brot gebrochen und der Wein getrunken waren, versammelten sich alle zum Festmahl. Auch wir waren geladen. Wir gingen durch die einzige Straße dieser merkwürdigen Siedlung, vorbei an den gleichförmigen Häusern. Der Alltag der Schmuggler und Schieber war skurril, sie lebten wie auf dem Bahnhof – Höfe und Dächer, Anhänger und Lauben voller Waren, in Kartons und Sporttaschen verpackt, in alte Tücher
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