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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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eine Komposition! Warum aber drängte man sie dann, sie zu spielen? Warum, um Himmels willen?!
     
     
    Ich bat sie, mit dem Üben aufzuhören, und fragte, wie lange sie sich bereits mit dieser Komposition beschäftigte. Fast ein halbes Jahr! Fast ein halbes Jahr übte Marietta jetzt also ein Stück, das sie keineswegs gerne spielte! Ich machte weiter und fragte sie, ob ihr bestimmte Passagen dieses Stück besonders gefielen, ob es also nach ihrer Meinung besonders schöne Stellen in diesem Stück gebe.
    Marietta schaute mich an und schüttelte den Kopf, nein, diese schönen Stellen gebe es nicht, das Stück sei schön, nicht aber bestimmte Stellen! Vielleicht habe sie aber doch eine Lieblingsstelle, eine Stelle vielleicht, die sie besonders gern spiele? Nein, die habe sie nicht, ihr gefalle eben das ganze Stück, eine Lieblingsstelle gebe es nicht.
    Soll ich Dir meine eigene Lieblingsstelle vorspielen? , fragte ich, doch Marietta schaute mich an, als redete ich in einer fremden, unverständlichen Sprache. Ich spiele Dir eine meiner Lieblingsstellen vor, sagte ich weiter und setzte mich an den Flügel. Hör bitte genau zu!
     
    Manchmal hatte auch Walter Fornemann mich von meinem Übungsplatz an seinem Flügel verdrängt. Er hatte selbst Platz genommen und eine bestimmte Passage eines Stückes gespielt, doch dabei war es meist nicht geblieben. Gute Pianisten erkennt man daran, dass sie einen Flügel von Weitem wittern und sofort bemerken, wo er sich im jeweiligen Raum befindet … Gute Pianisten erkennt man daran, dass sie die Anziehungskraft des Instruments wie einen Magneten spüren … Gute Pianisten erkennt man daran, dass sie sich nicht leicht von einem Flügel lösen … Gute Pianisten erkennt man an ihrer zeitlich grenzenlosen Hingabe an das Instrument …
     
    Der Tee, das Gebäck, ein paar leise, murmelnde Stimmen im Hintergrund. Johannes, hör genau zu!
     
    Walter Fornemann hatte schließlich einen Plan entwickelt, wie er sich meine künftige Entwicklung vorstellte. Nach der Volksschule sollte ich ein Musik-Internat im Süden Deutschlands besuchen. Dieses Internat wurde von Zisterzienser-Mönchen geleitet, die angeblich in solchen Dingen die besten und unbestechlichsten Lehrer waren. In so einer Anstalt wird der Junge nicht eitel!
    Einmal im Monat sollte ich nach Köln kommen, wo ich von Walter Fornemann einen Nachmittag lang weiter unterrichtet wurde. Wenn ich etwa vierzehn Jahre alt war, konnte festgestellt und exakt vorausgesagt werden, ob mein Talent, mein Fleiß und meine technischen Fertigkeiten ausreichten, um eine pianistische Laufbahn einzuschlagen.
    War dies nicht der Fall, würde ich statt des Internats sofort wieder ein normales Kölner Gymnasium besuchen. Flüssig und korrekt sprechen wird Johannes vielleicht nie, aber das macht nichts, alle guten Pianisten sind leicht behindert. Wenn er wirklich ein guter Pianist wird, braucht er den Mund sowieso nicht aufzumachen. Auf die Bühne, eine Verbeugung, brillantes Spiel, und wieder eine Verbeugung! Im Grunde ist das Klavierspiel für einen wie Johannes doch geradezu ideal …
     
    Nein, Marietta verstand nicht, warum die Stelle, die ich gerade vorgespielt hatte, meine Lieblingsstelle war. Auf meine Nachfrage hin erklärte sie, dass diese Stelle doch gar nichts Besonderes sei, sondern einfach eine Stelle wie viele andere auch. Ich fragte sie, ob sie vielleicht einen Lieblingskomponisten habe. Nein, den hatte sie auch nicht.
    Ich wollte nicht sofort wieder aufstehen, ich wollte mich nicht von Mariettas Flügel lösen. Soll ich Dir etwas anderes vorspielen? , fragte ich, etwas, das mir besonders gut gefällt? Marietta schaute mich wieder sehr ernst an, als fiele ihr einfach keine Antwort ein. Dann aber sagte sie: Spielen Sie doch einmal ein Stück, das gar keinen Komponisten hat! Ich zögerte. Ein Stück, das gar keinen Komponisten hatte? Was meinte sie denn? Vielleicht meinte sie, dass ich keine klassische Musik spielen sollte, sondern einfach ein Stück, wie man es auf den Straßen und Plätzen zu hören bekam. Ein anonymes Stück, ein Stück purer Musik, ohne Bühne, ohne Glanzlichter.
     
    Das ist ein guter Vorschlag, Marietta, sagte ich, das ist ein sehr guter Vorschlag. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich einen Moment. Dann aber waren die Noten da und das leise Summen und eine heimlich in einem See badende Frau und das Sonnenlicht eines Abends auf dem Land …, und während ich spielte, verschwanden diese schönen Bilder allmählich,

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