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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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nächtlichen Drink auf den großen Platz vor unserem Wohnhaus. Meist waren wir sehr müde und von der Musik, die wir zuvor gehört hatten, noch immer betäubt. Gerade in solchen Momenten aber gelangen uns die besten Unterhaltungen. Sie fielen uns beiden erstaunlich leicht, dabei wurden doch nur sehr knappe Sätze gewechselt, als wäre uns längst die Luft ausgegangen.
     
    Vorgestern zum Beispiel, es war schon nach eins, sagte Antonia plötzlich sehr müde, tonlos und langsam, als wollte sie sich nicht mehr richtig anstrengen: Ich hatte seit anderthalb Jahren keinen Sex! Ich antwortete nicht, ich ließ diesen Satz einfach so stehen. Jeder Satz, den ich darauf geantwortet hätte, wäre nachts um eins wahrscheinlich ein großer Blödsinn gewesen.
    Nach einer längeren Pause aber schob sie dann noch eine Frage nach, und in meinen Ohren hörte sie sich merkwürdigerweise an wie ein kurzer, lässiger Griff einer Hand in die Saiten eines Cellos: Und Sie, Johannes, wann hatten Sie das letzte Mal Sex? Ich antwortete wieder nicht, sondern schaute nur kurz auf die Uhr. Dann trank ich langsam mein Glas aus und sagte: Liebe Antonia, die ganz großen Themen besprechen wir morgen, einverstanden? Antonia war einverstanden, sie nickte, und wir ließen es in dieser Nacht dabei bewenden.
     
    Seither bekomme ich diesen Dialog nicht mehr aus dem Kopf. Er lässt mich aber nicht nur wegen seines Themas nicht los, nein, er irritiert mich vor allem auch deshalb, weil die Frage, wann ich das letzte Mal Sex hatte, die erste Frage nach meinem Privatleben war, die Antonia mir überhaupt stellte. Sicher, sie hatte mich, seit wir uns kannten, auch einiges halbwegs Private gefragt, diese Fragen hatten eine gewisse Grenze jedoch nie überschritten. Selbst wie es mir ging oder wie ich mich fühlte oder ob ich zufrieden, glücklich, melancholisch oder euphorisch war, hatte Antonia mich niemals gefragt, während ich selbst sie doch so etwas beinahe täglich gefragt hatte und wir dann gemeinsam ihrem jeweiligen Gefühlszustand auf den Grund gegangen waren.
     
    Jetzt, wo mir unser kurzer tiefnächtlicher Dialog wieder durch den Kopf geht, fällt mir aber erneut auf, dass es mir mit vielen Menschen so ergeht. Kaum jemand fragt mich etwas sehr Privates oder gar Intimes, während ich mit meinen Gesprächspartnern rasch in die Untiefen ihrer Psyche gerate. Warum aber fragt mich kaum jemand? Warum nicht?!
     
    Wenn ich es genauer bedenke, haben mich auch meine Eltern fast niemals etwas sehr Privates gefragt. Meine Mutter fragte danach grundsätzlich nicht, und mein Vater fragte mich dann und wann derart allgemein und vorsichtig, dass ich eine solche Frage meist nur noch abnicken und damit erledigen konnte. Geht es Dir gut? Aber ja doch, mir ging es gut. Kommst Du gut voran? Aber sicher, ich kam gut voran. Hast Du Freunde im Internat gefunden? Jawohl, es gab ein paar Jungs, mit denen ich häufiger zusammen war als mit anderen Jungs. Macht Dir das Leben im Internat Spaß? Ja, ich war mit dem Leben im Internat sehr zufrieden.
     
    Zu Hause also merkte man mir überhaupt nicht an, was im Internat vor sich ging. Ich sprach von den Stücken, die ich auf der Orgel übte, und meine Eltern waren derart stolz auf mein Können, dass sie dem Pfarrer unserer Pfarrei auf dem Land vorschlugen, mich einmal auf der Orgel der Dorfkirche spielen zu lassen. Wollte ich das? Machte das auch mir Spaß? Ja, es machte mir Spaß, wenn niemand außer meinen Eltern und dem Herrn Pfarrer zuhörte.
     
    Beinahe beflissen und übereifrig war ich dabei, alle eventuellen Bedenken der Eltern beiseite zu fegen. Nein, die zeitweilige Trennung von ihnen machte mir nichts aus, ich kam inzwischen damit zurecht. Nein, die anderen Jungs gingen mit mir nicht ungerecht, sondern freundlich und aufmerksam um. Manchmal hörten sich unsere Unterhaltungen so an, als hätte ich die Antwort schon vor der Frage parat, und wahrhaftig war es ja so, ich hatte mir die Antworten auf die Fragen der Eltern längst überlegt, ich war bestens auf sie vorbereitet.
    Um richtige, ernsthafte, sich Zeit lassende Fragen handelte es sich, wie gesagt, sowieso nicht. Die Fragen, die meine Eltern stellten, waren vielmehr Pflichtfragen. Mit diesem Begriff hatten wir Schüler all die Fragen getauft, die wir während unserer Aufenthalte zu Hause über uns ergehen lassen mussten. Pflichtfragen brachte man hinter sich, sie hatten nichts zu bedeuten, Pflichtfragen mussten gestellt werden, um den schönen Schein des elterlichen

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