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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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war.
    Marietta, sagte ich also, lass uns Musik sammeln, und zwar überall, wo wir ihr begegnen! Und dann zogen wir los, nahmen ein Notenheft mit, lauschten und hörten uns um, und ich notierte, was wir gerade hörten und was Marietta gefiel. Die Melodie eines Schlagers, der Rhythmus eines Schlagzeugs, das Summen eines Walzers, der Klingklang von Glocken … – all das sammelte ich und skizzierte es in unserem Heft, und dann notierten wir dazu, wo und wann wir den jeweiligen Musikfetzen gehört hatten.
    Damit aber nicht genug, sondern noch viel mehr! Ich fragte Marietta, welche Stücke sie in den letzten Jahren gespielt hatte. Das Ergebnis war ebenso trostlos wie jämmerlich: Anscheinend hatte ihr Klavierunterricht ausschließlich aus Stücken klassischer Musik bestanden! Warum aber das? Natürlich war nichts dagegen einzuwenden, solche Musik zu üben, natürlich nicht, wohl aber war es sehr einfallslos, ja geradezu sträflich dumm, einem zwölfjährigen Mädchen ausschließlich solche Musik vorzusetzen. Längst musste es den Eindruck haben, das Klavier sei lediglich erfunden worden, um darauf Bach, Händel und Mozart zu spielen. Was für ein Unsinn! Und wer hatte sich so ein traniges Übungsprogramm ausgedacht?!
     
    Ich kam darauf lieber nicht zu sprechen, fragte aber doch nach, ob Marietta schon einmal Jazz gehört habe. Nein, hatte sie nicht. Und andere als westeuropäische Musik, Musik aus Cuba, der Karibik oder Indien? Nein, auch an solche Musik konnte sie sich nicht erinnern. Ihre Vorstellung von Musik hatte also bisher beinahe vollständig darin bestanden, sich auf der Empore der Leipziger Thomaskirche oder in einigen klassizistischen Wohnungen der Wiener Innenstadt ein unauffälliges Sitz-Plätzchen in längst vergangenen Jahrhunderten zu verschaffen. Wir lebten inzwischen im einundzwanzigsten Jahrhundert, wenigstens das bisschen Pop-Musik, das Marietta hörte, kam aus unserer Gegenwart, mit den Stücken ihres bisherigen Klavierunterrichts jedoch hinkte sie mehr als zweihundert Jahre hinter der Entwicklung her.
    Es genügte also nicht, nur mit ihr spazieren zu gehen, um hier und da eher zufällig etwas Musik aufzuschnappen, ich musste noch viel mehr tun. Und so beschaffte ich mir ein monatlich erscheinendes Veranstaltungsprogramm der Stadt Rom und suchte zusammen mit Marietta Konzerte vor allem jener Musikrichtungen und Stile heraus, die sie noch nicht kannte. Argentinischer Tango, portugiesischer Fado, äthiopischer Soul, aber auch sizilianische Trauermärsche, lateinamerikanische Revolutionslieder oder russische Mönchsgesänge – wir hörten uns das alles dann wirklich an, wobei für mich selbst von großer Bedeutung war, dass wir solche Musik auch wirklich live hörten.
    Das alles wurde mit guter Klassik gemischt, mit Konzerten in den römischen Ruinen spätabends, mit Auftritten junger Pianisten in den Kellern des Viertels Trastevere oder mit Opern-Aufführungen in den Thermen an den Wochenenden, wenn wir es uns leisten konnten, bis weit nach Mitternacht draußen im Freien Musik von Verdi oder Puccini zu hören.
     
    Meist ganz nebenbei erkundigte ich mich danach, was Marietta von all diesen Darbietungen besonders gefiel. Hatten wir etwas gefunden, suchte ich nach den entsprechenden Noten oder komponierte selbst ein kurzes Stück in der jeweiligen Musikrichtung für das Klavier. Der Unterricht wirkte dadurch locker und wie improvisiert, und doch lagen diesem Programm die vielen kleinen Skizzen und Aufzeichnungen zugrunde, die ich oft noch während der Konzerte notierte. Es waren meist nur ein paar Noten, ich konnte mich auf mein absolutes Gehör und mein Gedächtnis verlassen, und doch brauchte es einige Kenntnis und Erfahrung, um aus diesen Andeutungen kleine Stücke oder Songs zu machen.
     
    Nach kurzer Zeit fand auch Antonia an diesem Programm ein derartiges Gefallen, dass wir uns abends schließlich immer häufiger zu dritt auf den Weg in das Zentrum machten. Antonia lenkten solche Abendunternehmungen von ihren Ehe-Problemen ab, und in Gegenwart ihres Kindes kam sie erst gar nicht auf den Gedanken, lange über ihren Mann zu sprechen. Überrascht stellte ich fest, dass sie auch ohne die Fixierung auf solche Themen existieren konnte und dass sie mit der Zeit in mir nicht mehr nur den Adressaten für ihre rasch wechselnden psychischen Stimmungen sah.
     
    Ab und zu setzten wir uns in der tiefen Nacht, wenn Antonia ihre Tochter bereits ins Bett gebracht hatte, noch einmal für einen letzten

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