Die Erfindung des Lebens: Roman
zeitweilig getrennt. Was lag da näher, als dass dieses Kind sich neue Eltern suchte?
Diese Eltern waren nicht sichtbar und nicht immer dieselben, und sie waren auch keine richtigen Eltern, eher war es so, dass es jetzt eine Art großer Verwandtschaft gab, die mit dem Kind sprach und sich um es kümmerte. Manchmal sprach diese Verwandtschaft zu dem Kind direkt aus ihrem Domizil im Himmel, dann aber betete sie mit dem Kind, als befände sie sich ganz in seiner Nähe mitten in der Klosterkirche oder hoch oben auf der Orgelempore.
Die große Verwandtschaft verlangte von dem Kind einen starken Glauben und viel Gehorsam, und das Kind gehorchte, weil es keinen anderen Ausweg mehr sah.
30
MEINE ERSTE Unterrichtsstunde für Marietta war kein großer Erfolg. Sie hat mir etwas vorgespielt, und ich habe dieses Spiel unterbrochen; dann habe ich wiederum ihr etwas vorgespielt, und sie hat das alles mit einem freundlichen Lächeln ertragen. Am Ende waren wir beide etwas ratlos: Wie sollte es weitergehen?
Nun hatte ich ja lediglich versprochen, sie in einer Übergangsphase zu unterrichten, und mir dabei von vornherein ausgemalt, dass diese Übergangsphase nicht von allzu langer Dauer sein werde. Ich hatte aber auch versprochen, mich um einen guten Klavierlehrer zu kümmern, obwohl ich augenblicklich keine große Lust und nicht den richtigen Antrieb für diese aufwendige Suche habe.
Am einfachsten wäre es gewesen, in das Conservatorio zu gehen, dort hätte ich rasch die Adresse eines jungen Studenten bekommen, der sich gern mit Klavierunterricht etwas Geld dazuverdient hätte. Ich wollte und konnte das Conservatorio aber aus gewissen Gründen jetzt noch nicht aufsuchen, ja ich hatte sogar das dumpfe Gefühl, als wäre mir der Zugang zu diesem Gebäude versperrt. Ich möchte auf diese auf den ersten Blick kindliche Hemmung jetzt nicht näher eingehen, zu einem späteren Zeitpunkt meiner Erzählung wird wohl deutlich werden, worin die ernst zu nehmenden Ursachen dieser Hemmung bestanden.
Marietta und ihrer Mutter gegenüber befand ich mich jedenfalls in einer Klemme: Ich sollte das Mädchen unterrichten und wusste doch nicht, wie ich das tun sollte. Mich einmal in der Woche neben sie ans Klavier zu setzen, Fingersätze zu korrigieren und sonst alles beim Alten zu lassen, kam nicht in Frage. Gespräche über Lieblingskomponisten und die Schönheiten bestimmter Stellen in einem Stück zu führen, war jedoch auch nicht das Richtige.
Eine Idee wäre es gewesen, Marietta mit den Grundlagen der Harmonielehre vertraut zu machen, doch wollte nicht ausgerechnet ich es sein, der ihr solche Leistungen abverlangte und sie mit Musiktheorie quälte. Und, um ehrlich zu sein: Ich konnte mir nicht vorstellen, wie gerade dieses lebenslustige und offene Mädchen den Vorschlag aufnehmen würde, zu einem vorgegebenen Generalbass die passenden Akkorde zu suchen.
Marietta hätte mich bestimmt angeschaut, als verlangte ich von ihr etwas ganz und gar Überflüssiges, ja sogar Sinnloses. Und vielleicht hätte sie damit sogar recht gehabt, vielleicht war es wirklich überflüssig und sinnlos, ein Mädchen wie Marietta mit Harmonielehre vertraut zu machen. Obwohl die Kenntnis von Harmonielehre den Hörgenuss erheblich steigert! Obwohl die Harmonielehre viele Raffinessen und Schönheiten für einen wirklich passionierten Klavierspieler bereithält! Und obwohl die Harmonielehre mir selbst gerade in Mariettas Alter viel Freude gemacht hat!
Schluss damit! Ich war von meiner Ausbildung und meinen Neigungen her weder ein Klavier- noch ein Harmonielehre-Lehrer, das konnte ich immerhin zu meiner Ehrenrettung sagen. Was aber dann? Wie sollte ich Marietta unterrichten?
Die Fragen, die ich hier stelle, sind inzwischen rein rhetorischer Natur, denn ich habe nun wahrhaftig einige Einfälle zu diesem Thema gehabt, auf die ich geradezu stolz bin. Diese Einfälle ergaben sich dadurch, dass ich Unterrichtsstunden neben Marietta am Klavier vorerst kategorisch ausschloss. Wo und wie aber konnte ich sie denn sonst unterrichten? Ganz einfach: In der Stadt, während langer Spaziergänge, die wir gemeinsam unternehmen würden, um Rom ganz nebenbei als ein einziges großes Musikangebot kennenzulernen!
Die Idee war nicht neu, ich erinnere nur daran, dass ich selbst ja längst mit derartigen Spaziergängen begonnen hatte. Neu war nur, dass ich solche Spaziergänge nicht mehr allein unternahm, sondern von nun an zusammen mit Marietta unterwegs
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