Die Erfindung des Lebens: Roman
Interesses an der Zukunft des Kindes zu erhalten.
Waren aber meine Eltern an dieser Zukunft wirklich noch so interessiert, wie sie es in meinen Kinderjahren doch einmal gewesen waren? Wenn ich jetzt manchmal für ein paar Tage nach Hause kam, hatte ich den Eindruck, dass ihr Interesse nachgelassen hatte und sie mit ihren eigenen Sorgen und Problemen beschäftigt waren. Diese Sorgen kreisten nach ihrem Umzug um Vaters neue Existenz und Mutters Arbeit in der Bibliothek. Mich wunderte, wie leicht es ihnen anscheinend gefallen war, Köln zu verlassen und unsere gemeinsame, von mir sehr geliebte Wohnung aufzugeben. Gelegentlich schien es so, als wären sie sogar erleichtert, sich von Köln getrennt zu haben, dabei hatten wir in dieser Stadt doch so viel erlebt, von dem man sich gar nicht trennen konnte.
Ich selbst jedenfalls glaubte, von Köln niemals Abschied nehmen zu können, wusste aber nicht, wie ich die Verbindung zu der einzigen Stadt, in der ich mich vollkommen zu Hause fühlte, hätte aufrechterhalten können. Meine Eltern waren mit Sack und Pack , wie Vater das nannte, aus ihr verschwunden, so dass ich irgendwann einmal allein auf dem großen, ovalen Platz stehen und zu den Fenstern jener Wohnung hinaufstarren würde, in der ich meine Kindheit verbracht hatte. Schon bei diesem Gedanken wurde mir beinahe übel, ich durfte daran nicht denken, nein, ich durfte mich auf solche Phantasien keineswegs einlassen.
Schließlich konnte man das Ganze aber auch noch von der Seite meiner Eltern her betrachten: Meine Eltern nämlich freuten sich, endlich wieder in ihrer Heimat angekommen zu sein. Auf dem Land und damit in ihren eigenen Kindheitsgegenden fühlten sie sich nach wie vor am wohlsten, hier lebten die vielen Verwandten und die Freunde, hier verging kein Tag, ohne dass man nicht mit vielen Menschen, die man liebte oder achtete, gesprochen hätte.
Bald zwei Jahrzehnte nach dem Krieg durfte das einzige noch am Leben gebliebene Kind nicht mehr die Hauptrolle spielen. Es hatte sich einzuordnen in die neuen Verhältnisse – so dachten meine Eltern wohl insgeheim und glaubten dabei fest, dass mir so etwas gelingen würde. Ich aber wusste damals noch nicht, wie ich diesen Sprung in das neue, veränderte Leben schaffen sollte. Noch war ich gehorsam und erschien nach außen hin ruhig und einverstanden mit allem, was um mich geschah. Doch ich wurde stiller und stiller, und dieser innere Rückzug dauerte so lange, bis ich mich beinahe wie von selbst zu wehren begann.
31
DIE ERSTE Unregelmäßigkeit in meinem Internats-Leben ereignete sich, als mein bisher monatliches Vorspielen bei Walter Fornemann in ein halbjährliches umgewandelt worden war. Mit der Zeit hatte sich nämlich herausgestellt, dass eine Fahrt einmal im Monat nach Köln zuviel war und mir kaum etwas brachte; ich spielte Fornemann meine kirchlichen Passionsstücke , wie er sie nannte, vor, und er erteilte mir eher eine Lektion in Musikgeschichte als in pianistischer Technik.
Dass mein Repertoire nicht mehr weit über Beethoven hinausging, beschäftigte Fornemann nicht, vielmehr war er der Meinung, dass mir ein gründlicher Unterricht in früher Musik nicht schaden könne. Unser Lehrer-Schüler-Verhältnis war zwar gut, aber auch in diesem Fall hatte ich wie im Fall meiner Eltern manchmal den Eindruck, als entfernte sich Fornemann allmählich von mir oder als wäre ich für ihn nicht mehr wie früher der helle, leuchtende Stern am Himmel seines pianistischen Schüler-Universums.
Über all diese verstörenden und für einen Jungen meines Alters schwer einzuschätzenden Erfahrungen konnte ich im Internat mit niemandem sprechen. Mich den Patres oder gar dem Abt anzuvertrauen, kam nicht in Frage, die einzige Möglichkeit hätte vielmehr darin bestanden, einen Mitschüler ins Vertrauen zu ziehen. Einen solchen Mitschüler aber, dem auch ich selbst vertraut und mit dem ich meine Erfahrungen und Erlebnisse geteilt hätte, gab es im Internat nicht. Ich kam mit meinen Klassenkameraden durchaus gut aus, aber unter ihnen war keiner, zu dem ich mich besonders hingezogen gefühlt hätte. Auch meine Mitschüler pflegten nur selten typische Zweier-Freundschaften, eher kam es vor, dass man sich zu kleinen Gruppen oder Zirkeln zusammentat. Diese Gruppen lösten sich aber ebenso rasch wieder auf, wie sie sich gebildet hatten, meist hatten sie mit bestimmten Vorhaben oder Projekten zu tun, intensivere Beziehungen zu anderen Schülern stellten sich also auch in
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