Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
Vom Netzwerk:
immer dasselbe: Ich sage nichts, ich warte ab, was geschieht, ich erlebe eine gewisse, sehr angenehme Unruhe und eine gewisse, sich allmählich steigernde Anspannung, und das alles ist mir lieber als eine rasche und eindeutige Klärung der Situation.
    Es hat schon Fälle gegeben, in denen ich einen Abend und eine halbe Nacht damit zugebracht habe, die Steigerungsphasen einer erotischen Annäherung zu genießen, während ich doch beinahe die ganze Zeit über nichts anderes gesprochen habe als über ein zu langes Tennis-Match, das ich am Nachmittag desselben Tages im Fernsehen gesehen hatte.
    Über Tennis zu sprechen, fällt mir leicht, ja ich glaube sogar, dass ich über Tennis besser sprechen kann als über jede andere Sportart. Antonia hat auch dafür eine Erklärung, und zwar die, dass Tennis eine Sportart für verrückte Einzelgänger und ewige Kämpfer mit immenser Ausdauer sei und eben deshalb genau die richtige Sportart für mich, der ich für meine Romanarbeit doch ebenfalls die Erfahrungen eines verrückten Einzelgängers und die eines ausdauernden Kämpfers bräuchte. Kein Wunder also, dass Tennis mich mehr interessiere als Fußball, Fußball sei eben mehr etwas für Männer mit einem gut ausgeprägten Gemeinschafts- oder Geselligkeits-Sinn wie ihn etwa Sergio, ihr Mann, schon allein dadurch besitze, dass er mit vier Geschwistern groß geworden sei …
     
    Ich sagte also zunächst nichts, ärgerte mich dann aber, dass ich schon wieder dabei war, in die Rolle des zurückhaltenden Beobachters zu schlüpfen. Wegen dieses leichten Ärgers begann ich daher nun doch zu reden, ich sprach davon, dass ich einmal eine Zeit lang Tennis gespielt hätte, es sollte sich so anhören, als wollte ich wieder einmal über das Thema Tennis plaudern, klang nun aber so, als wollte ich auf dem Weg über das Thema Tennis wieder den Faden zum Thema Marietta aufgreifen.
    An Antonias Reaktion bemerkte ich, dass sie diesen Faden aber keineswegs aufgreifen wollte, ach, sagte sie, reden wir nicht über Tennis und Marietta, reden wir lieber einmal von Dir!
    Von mir?! Wirklich von mir?! Hatte sie das wirklich gesagt und meinte sie das etwa auch so?!
     
    Ich habe bereits erzählt, wie selten es geschieht, dass mich jemand bittet, von mir zu erzählen. Da es aber so selten geschieht, bin ich auch nicht daran gewöhnt, so etwas zu tun. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, wann ich das letzte Mal in einem Restaurant oder in einer Kneipe zusammen mit einem Freund oder einer Freundin gesessen habe und ihnen etwas Privates von mir erzählt hätte.
    Wenn ich aber doch einmal von mir erzähle, tue ich das in schriftlicher Form wie zum Beispiel in einem Roman, der von mir handelt. Auch in Briefen und Mails kann ich, wenn auch nicht so gut wie in der Romanform, von mir erzählen. In all diesen Fällen habe ich nämlich das Gefühl, die Steuerung und die Herrschaft über mein Erzählen zu behalten. Beim mündlichen Erzählen aber und beim Anblick eines vielleicht sogar noch nahen Gegenübers ist das nicht möglich. Vielleicht beginne ich in solchen Fällen manchmal noch, etwas von mir zu erzählen, schon nach wenigen Minuten ist das aber meist wieder vorbei, und ich habe eine geschickte Überleitung zu anderen Themen gewählt.
     
    Nein, von mir erzählen kann ich einfach nicht, und natürlich ist auch diese Unfähigkeit eine Folge meiner frühsten Kindheit, als jede Frage an das stumme Kind mir wie eine Bedrohung erschien und ich wegen meiner Stummheit nicht antworten konnte. So gesehen, verfolgt mich meine Kindheit noch immer, ja, sie verfolgt mich, wohin auch immer ich gehe und obwohl ich gegen nichts so sehr anzukämpfen versuche wie gegen diese Verfolgung und gegen die Nachwirkungen, die mir von meiner Kindheit geblieben sind.
     
    Der ausdauerndste und längste Kampf, den ich gegen diese Nachwirkungen führe, besteht in meinem Schreiben. All mein ewiges Schreiben, könnte ich nämlich behaupten, besteht letztlich nur darin, aus mir einen anderen Menschen als den zu machen, der ich in meiner Kindheit gewesen bin. Irgendwann soll nichts mehr an dieses Kind erinnern, irgendwann möchte ich Geschichten erzählen, die nicht mehr den geringsten Anschein erwecken, noch etwas mit meiner Kindheit zu tun zu haben. Bisher ist mir das selbst in mehreren Jahrzehnten noch nicht gelungen, auch wenn es bei manchen meiner Romane und Geschichten auf den ersten Blick so aussieht, als wäre ich meinem alten Thema endlich entkommen.
    Der erste Blick aber

Weitere Kostenlose Bücher