Die Erfindung des Lebens: Roman
natürlich hatte ich sie auch nicht Wort für Wort im Kopf. Die großen Zusammenhänge aber, die Erzähllinien, die kannte ich ja durchaus, schließlich war ich gerade dabei, mein halbes Leben auf Hunderten von Seiten in einem Roman zu erzählen!
Der Trick, den ich anwenden musste, bestand also darin, mich an die Schriftfassung einzelner Lebensgeschichten zu erinnern. Wenn mir das gelang, erzählte ich flüssig und ohne Hemmungen.
Ich kann kaum beschreiben, wie glücklich ich in dem Moment war, als ich diese für mich sehr bedeutsame Entdeckung machte. Das Schreiben half mir also nicht nur indirekt weiter, indem es Klarheit und Struktur in meine Phantasien und Gedanken brachte, nein, es half mir auch mitten im Leben, ganz direkt, indem es mir Erzähl-Versionen von Bruchstücken meiner Lebensgeschichte lieferte, die ich dann selbst einer mir noch relativ fremden Person erzählen konnte!
Stell Dir vor, Antonia, sagte ich also, ich habe als junger Mensch einmal ein Internat besucht. Und als ich sah, wie Antonia sich mir gegenüber etwas vorbeugte und mich so anschaute, als interessierte sie diese Geschichte wirklich, fuhr ich fort: Das Internat war in einem großen Klosterbezirk untergebracht, es gab eine Klosterkirche, einen Klostergarten und einen barocken Klosterbau. Geleitet wurde es damals, in den frühen sechziger Jahren, noch von Zisterzienser-Mönchen …
Gegen ein Uhr in der Nacht, als das Il Cantinone dann schloss, waren wir die letzten Gäste. Wir überquerten wieder den Platz vor unserem Wohnhaus, diesmal hatte sich Antonia bei mir eingehängt. Ich schloss die Haustür auf, dann gingen wir die Treppe hinauf. Als wir beide vor unseren Wohnungstüren standen, war die Versuchung groß, nur eine dieser beiden Türen zu öffnen.
Ich gab mir einen Ruck und sagte genau diesen Satz, ja, wahrhaftig, ich sagte: Jetzt ist die Versuchung groß, nur eine dieser beiden Türen zu öffnen.
Antonia stand dicht vor mir, ich sah, wie sie über meinen Satz lächelte. Dann gab sie mir einen flüchtigen Kuss und antwortete: Ich finde, wir sollten dieser Versuchung heute noch widerstehen.
Ich nickte und wandte mich zu meiner Tür, um sie aufzuschließen. Am liebsten hätte ich mich jedoch noch einmal mit Antonia in ihre Küche gesetzt. Wir hätten eine Flasche Wein geöffnet, und ich hätte zum ersten Mal in meinem Leben einem anderen Menschen von jenen Tagen in meiner Adoleszenz erzählt, als ich mutterseelenallein nach Rom aufbrach...
IV
Roma
33
ICH SEHE den Jungen genau vor mir, der an jedem Morgen kurz nach sechs Uhr das einsame Haus auf der Höhe verlässt und auf einem Feldweg hinab in den nahe gelegenen Ort geht. Er trägt eine braune Ledertasche mit Schulbüchern, passiert zwei, drei schmale Landstraßen und erreicht schließlich den Bahnhof.
Wenige Minuten später fährt der Eilzug nach Köln ein, der für die Strecke entlang der Sieg etwa eine Stunde braucht. Der Junge sucht sich einen freien Platz, der in dieser Frühe noch leicht zu finden ist, dann holt er einige Bücher hervor und verbringt die Zeit bis zur Ankunft in Köln mit Lesen. Er liest Ciceros Reden in Latein, Erzählungen und Novellen deutscher Dichter des neunzehnten Jahrhunderts oder Mommsens Studien zur Römischen Geschichte – vieles davon ist Schullektüre, das meiste aber sind Bücher, die er in einer Kölner Bibliothek ausgeliehen hat, die sich in der Nähe des Rheins und seines Gymnasiums befindet.
Noch nie hatte der Junge so günstige Bedingungen für das Lesen und Lernen wie seit dem Tag, da er das Kölner Gymnasium besuchen darf. In den Freistunden ist er nach wenigen hundert Metern am Fluss, wo er auch nach dem Unterricht viel Zeit verbringt, und wenn er Lust auf neue Bücher hat, läuft er zur Bibliothek und kommt hinterher meist mit einem kleinen Stapel aus dem ockerfarbenen Gebäude zurück, in dessen altem Lesesaal er häufig die neusten Zeitungen durchblättert.
Hinzu kommt, dass er an diesem Gymnasium ein absoluter Neuling ist. Kein einziger Lehrer und niemand von den Schülern weiß etwas von seiner Vorgeschichte, stattdessen heißt es über ihn, dass er zuvor ein Musik-Internat im Süden besucht habe und durch einen berufsbedingten Umzug seiner Eltern nun auf dem Land, in der Nähe von Köln, wohne. Das ist schon richtig, stimmt aber nicht ganz, doch ihm genügen diese Angaben, so dass er sie bestätigt und mit keinem Wort erwähnt, dass er seine gesamte Kindheit in Köln verbracht
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