Die Erfindung des Lebens: Roman
Aber warum soll ich das? Und warum glaubt Vater, dass ich so etwas nicht kann? Ich kann vielleicht noch keine Wörter und Buchstaben schreiben, doch Noten, die kann ich natürlich aufschreiben. Es hat mich nur noch niemand darum gebeten, kein Mensch hat sich für die Noten in meinem Kopf interessiert.
Ich nehme Vater das Blatt aus der Hand und setze mich auf den Boden und notiere die Noten, die Vater gerade gesungen hat. Dann gebe ich ihm das Blatt zurück.
Vater starrt auf das Blatt, ich sehe Vater jetzt auf das Blatt starren. Das sind die Noten, Johannes? Das sind genau die richtigen Noten und nicht irgendwelche Noten, die Du Dir bloß ausgedacht hast?
Ich schüttle den Kopf und schaue Vater in die Augen, ohne den Blick ein einziges Mal abzuwenden. Ich schaue und schaue, ich warte darauf, dass Vater die Noten singt, die ich gezeichnet habe. Und dann macht er es wirklich. Vater blickt auf die Noten und singt, er singt leise und vorsichtig, als kennte er das Stück nicht genau, dann aber, zum Ende hin, legt er zu und erreicht die Zielgerade dann schnell.
Hast Du alle Noten im Kopf, die Du gespielt hast? , fragt Vater, und ich nicke sofort. Ja, ich habe alle Noten, die ich gespielt habe und spiele, im Kopf. Es ist ganz einfach, sie im Kopf zu haben, wenn man sie immer wieder geübt und dann auch in den Fingern hat. Ich vergesse sie nicht. Was ich gespielt und lange geübt habe, habe ich genau im Kopf, ich sehe es vor mir, ich sehe Note für Note, das ganze Stück rollt in meinem Kopf ab, wenn ich es abrufe: als würde ich es gerade spielen, als hätte ich es ausgedruckt vor mir.
Das ist fantastisch, sagt Vater, das ist eine ganz seltene Gabe, die Du da hast! Ich höre genau, was er sagt, aber ich begreife es noch nicht so richtig. Was für eine Gabe soll ich haben? Was ist das Fantastische daran?
Vater wirkt jetzt so, als habe er eine große Entdeckung gemacht. Noch nie habe ich erlebt, dass er mit sich selbst spricht, jetzt aber tut er das, er spricht mit sich selbst, ununterbrochen, er murmelt es vor sich hin, als könnte er es nicht mehr für sich behalten: Das ist unglaublich. Das Kind hat alle Noten im Kopf. Und niemand hat etwas davon gemerkt. Unfassbar. Nicht zu fassen. Dabei hätte man doch darauf kommen können, irgendwie hätte man darauf kommen können, aber wie? Wie hätte man darauf kommen können?
Ich bemerke, dass Vater den anderen von seinen Entdeckungen erzählen möchte, so schnell gehen wir jetzt in Richtung des Hofes. Es ist aber noch etwas früh, die meisten sind noch nicht von der Feldarbeit zurück. Deshalb werden wir dann doch wieder etwas langsamer und schließen noch einige Übungen an. Das Getreide! Nein, es gibt kein Getreide, sondern nur Hafer, Weizen und Gerste. Also suchen wir auf den Feldern danach, und dann zeichnet Vater die Getreidesorten einzeln und schreibt darunter: Das ist Hafer. Das ist Weizen. Das ist Gerste.
All das ebenfalls zu schreiben, ist für mich kein Problem, wenn ich die Sachen vorher gezeichnet habe. Ich muss sie zeichnen, dann sehe ich sie, und wenn ich sie richtig und deutlich sehe, sehe ich auch den Satz, der zu den Zeichnungen gehört.
Die Haferkörner zum Beispiel stecken in winzigen Mänteln, und die dicht geschlossenen Mäntel hängen an Stielen, die im Wind baumeln und sich im Wind wie ein Mobile drehen. Die Weizenkörner dagegen sind mantellos dick und nackt und kauern dicht an- und nebeneinander, als frören sie. Die Gerstenkörner schließlich sind nicht so rund wie die Weizenkörner, sondern viel schlanker und länglicher. Sie haben lange, sehr lange, in den Himmel schießende Haare, so dass ein Gerstenfeld von Weitem wie ein schön gebürsteter Haarkopf aussieht, der im Wind langsam hin und her schwankt.
Wenn ich die Dinge so vor mir sehe und sie mir ganz aus der Nähe genau anschaue, sehe ich deutlich ihr Bild. Ich präge mir dieses Bild ein, und wenn ich es mir eingeprägt habe, kann ich es mit den Buchstaben und Worten verbinden. In dieser Reihenfolge bringt mein Gehirn etwas zustande, in dieser Reihenfolge arbeitet vorläufig anscheinend mein idiotischer Kopf!
Als Vater gesehen hat, dass ich auch mit Hafer, Weizen und Gerste zurechtkomme, schaut er sich nach weiterem Material für meine Übungen um. Ich sehe, wie sein Blick jetzt über die Felder und an den Wegrändern entlang fliegt, und ich glaube zu sehen, dass Vater der Übermut packt. Wir machen mit den Kornblumen weiter, sagt er leise, mit Kornblumen und Mohn,
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