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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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gezeichnet und geschrieben hatte, noch einmal in die großen Kladden zu übertragen. Die kleinen Kladden waren Notizhefte, die großen waren für die Reinschrift. So entstand das System von Beobachten, Zeichnen und Schreiben und wuchs von nun an jeden Tag etwas mehr.
     
    Bei all unseren Wanderungen kam mir dabei sehr zugute, dass ich seit den frühsten Kindertagen genaues Beobachten gelernt hatte. Die vielen, endlosen Stunden mit der Mutter auf Bänken am Rhein, das lange Stehen in den kleinen Läden und Geschäften in der Nähe unseres Wohnhauses in Köln, das Ausharren neben Vater in der Kappes -Wirtschaft – all diese stillen und meist regungslos verbrachten Wartezeiten hatten dazu beigetragen, dass ich mir die Umgebung lange angeschaut und mich in ihre Einzelheiten vertieft hatte.
    Ich hatte lauter Bilder im Kopf, unendlich viele Bilder mit den kleinsten Einzelheiten – nur wusste ich nicht, wie man diese Einzelheiten benannte und wofür sie da waren. Alles um mich herum und auf meinen Bildern war rätselhaft und unverständlich geblieben, denn kein Mensch hatte mir ja bisher erklärt, warum es dieses oder jenes Ding gab, wofür man es brauchte und wie man es benutzte. So war mein Leben wie ein stummes Durchwandern langer Museumsfluchten mit lauter Bildern an den Wänden gewesen, zu denen mir jede Unterschrift und jede Erklärung gefehlt hatten. Ich hatte so exakt und genau beobachtet wie vielleicht kaum ein anderer, und doch hatte ich mit all meinen Beobachtungen nichts anfangen können.
     
    Jetzt aber gingen Vater und ich so vor, dass wir immer andere Teile der Landschaft studierten . Das Studium bestand darin, sich alles, aber auch alles genauer anzuschauen und es mit Hilfe der Zeichnungen in eine Kladde zu übertragen. Zu den Zeichnungen wiederum gehörten Vaters Kommentare, die er meist vor sich hin murmelte, denn er hatte sich seit Neustem angewöhnt, seine Gedanken nicht mehr nur für sich zu behalten, sondern sie auch auszusprechen.
    So kam es immer häufiger vor, dass mein mit sich selbst sprechender Vater und sein weiter sprachloser Sohn ein merkwürdiges und auf Außenstehende bestimmt komisch wirkendes Duo abgaben, das sich wie ein botanischer, in seine Forschungen verbohrter Trupp durch die Landschaft bewegte. Sprach der eine unaufhörlich mit sich selbst, so schien der andere darauf gar nicht zu achten, sondern seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Dem war aber keineswegs so, denn ich hörte meinem Vater sehr wohl aufmerksam zu, ja ich war ihm dankbar dafür, dass er mich endlich an seinen Ideen und seinem Wissen teilhaben ließ.
     
    Viele Jahre später hat Vater mir gegenüber einmal zugegeben, dass sein sehr spärliches Sprechen und Reden in meinen ersten Kinderjahren ein schwerer Fehler gewesen sei. Im Grunde habe er mit der Mutter und mir ja immer nur das Nötigste gesprochen, dabei sei er doch der Einzige gewesen, der etwas Sprache in unseren Haushalt hätte bringen können. Er habe uns zwar durchaus dieses oder jenes mitgeteilt, nicht aber wirklich flüssig und viel gesprochen. Der Grund dafür sei gewesen, dass er einfach nicht auf den Gedanken gekommen sei, mit sich selbst zu sprechen. Dabei wäre genau das doch das Einfachste und für mich Richtigste gewesen: wenn er ununterbrochen mit sich selbst gesprochen und mir dadurch näher gebracht hätte, was ihm gerade so durch den Kopf ging.
    Dass er nicht laufend mit sich selbst gesprochen habe, sei andererseits aber leicht zu erklären. Auf dem Land gelte jeder, der laufend mit sich selbst spreche, als nicht ganz normal oder sogar als verrückt. Deshalb sei es für ihn ausgeschlossen gewesen, mit sich selbst zu sprechen, er habe so etwas einfach nicht gekonnt, ja er habe es, ganz im wörtlichen Sinn, einfach nicht über die Lippen gebracht .
     
    Seit Vater und ich nun aber zusammen die Landschaft studierten, brachte er sehr wohl über die Lippen, was er zu alldem um uns herum zu sagen hatte. Heute vermute ich sogar, dass er auf dieses Reden und Erklären durch seine Arbeit als Geodät sogar beinahe auf ideale Weise vorbereitet war. Ganz ähnlich nämlich wie im Umgang mit seinen Mitarbeitern und Gehilfen kam es darauf an, Menschen, die nicht auf dem Land und damit inmitten von Natur groß geworden waren, die Natur zu erklären. Schau mal her …- das hier ist …- so lauteten die Fundamentalsätze dieser Sprache, die alles in eine Sprachlehre mit unendlich vielen detaillierten Eintragungen, Geschichten und Redeweisen

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