Die Erfindung des Lebens: Roman
mit Rittersporn und den verdammten Ackerwinden.
Ich verstehe nicht, warum die Ackerwinden diesen Fluch abbekommen, ich weiß noch nicht, dass sie sich oft um die Getreidehalme winden und sie ersticken. Was das verdammt bedeutet, ist mir im Moment auch egal, ich weiß nur, dass ich das alles und noch viel mehr zeichnen und aufschreiben werde, Tag für Tag, bis ich die ganze Umgebung gezeichnet und aufgeschrieben habe …
Als wir später in die Gastwirtschaft zurückkommen, trennt sich Vater von mir. Ich gehe hinab zum Fluss und löse einen der Knechte hinter dem Tisch ab, auf dem die Kasse für die Bootsfahrten steht. Das ist ein Boot. Nein. Das ist ein Kahn .
In meinem Kopf beginnt es zu arbeiten. Mir fehlen jetzt die Zeichnungen und die Worte. Stattdessen spricht es unaufhörlich in mir, satzweise, ein Satz nach dem andern. Das ist ein Baum . Nein . Das ist eine Weide. Und das ist eine Pappel. Pappeln sind viel schlanker und größer als Weiden. Weiden stehen selten so schlank und schön in einer Reihe hintereinander wie Pappeln. Weiden ducken sich an das Ufer, Pappeln stehen stramm. Ich beginne die Welt zu erkennen, ich beginne, sie zu verstehen, ab jetzt werde ich sie zeichnen und die richtigen Worte dazu notieren. Ich bin kein Idiot, ich war nie ein Idiot. Ich werde Mutter und Vater beweisen, dass ich kein Idiot bin. Ich habe alle Noten, die ich bisher gespielt habe, im Kopf. Mein Kopf ist nicht durcheinander, sondern nur anders. Bald werde ich wieder in die verdammte Schule gehen und allen zeigen, was ich alles so kann. Ich werde alles, was es hier zu sehen gibt, im Kopf haben, ich werde schreiben und lesen können. Auch das Sprechen werde ich noch lernen. Wenn ich sprechen kann, werde ich endlich zu den anderen gehören. Man wird mich nicht mehr unterscheiden, man wird mich nicht von den anderen trennen. Im Gegenteil, ich werde die anderen unterhalten, ich werde Klavier spielen und die anderen unterhalten. Und dann werden wir zusammen spielen. Ich werde mit den anderen Kindern und mit den Erwachsenen spielen. Dort unten auf der Wiese steht ein Vogel. Nein . Das ist ein Fischreiher. Ich mag Fischreiher sehr. Irgendwann wird der Fischreiher sich mit zwei, drei Flügelschlägen erheben und dann über den Fluss gleiten. Ich möchte mich bewegen können wie ein Fischreiher. Ich möchte manchmal ein Fischreiher sein, aber ich bin noch kein Fischreiher, sondern ich bin Johannes Catt, der Sohn meines Vaters, Josef Catt, und der Sohn meiner Mutter, Katharina Catt. Bald werde ich wieder gesund sein, dann kann meine Mutter hierherkommen. Meine Mutter wird sich freuen, mich gesund zu sehen. Ich werde ihr helfen, auch gesund zu werden. Wir werden es schon noch schaffen. Wir Catts, irgendwann werden wir alle gesund sein, und niemand wird uns weiter für verrückt oder für idiotisch halten. Das ist ein schöner Tag, das ist einer der schönsten Tage, die ich bisher erlebt habe. Seit dem Tag, als ich zum ersten Mal auf dem Klavier spielte, ist dies der schönste Tag. Es gibt auch schöne, sehr schöne Tage, an denen man kein bisschen traurig ist. Es gibt auch Tage ohne Traurigkeit, die gibt es. Heute ist so ein Tag. Ich freue mich. Ich werde mir niemals das Leben nehmen, nein, das werde ich nicht. Ich werde nicht einmal mehr daran denken, ob ich mir das Leben nehmen sollte. Es gibt keinen Grund, sich das Leben zu nehmen, wenn man gesund ist und wenn die anderen einen mögen. Hier auf dem Hof mögen mich die anderen. Ich werde ihnen zeigen, was ich jetzt so alles kann. Ich freue mich sehr, ich freue mich.
18
SEIT VATER entdeckt hatte, wie es in meinem Gehirn aussah und wie es im Einzelnen arbeitete, gingen wir bei unseren weiten, tagelangen Spaziergängen in der Umgebung des Hofes gezielter vor. Wir durchstreiften die Gegend nicht mehr nach Lust und Laune, sondern bewegten uns viel langsamer und gezielter als zuvor durch bestimmte Zonen der Landschaft.
Aus dem Schreibwarenladen des Dorfes hatte Vater schwarze, handliche Kladden mit weißen Blanco-Seiten kommen lassen, die ich während unserer Spaziergänge dabei hatte und in die ich zeichnete und schrieb. Daneben aber gab es noch größere Kladden mit feinen Linien und dicken Strichen in der Mitte jeder Seite, auf deren linke Hälfte ich zeichnete, während auf die rechte die zu den Zeichnungen gehörenden Worte hinkamen.
Nach dem Abendessen setzte ich mich bei gutem Wetter nach draußen an einen Gartentisch, um all das, was ich tagsüber in die kleinen Kladden
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