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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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verwandelten.
     
    Auf diese Weise ergänzten wir uns und arbeiteten die ganze Zeit eng zusammen, obwohl wir uns doch nicht so wie andere Menschen miteinander unterhalten konnten. Ich schaute genau hin und prägte mir die Details der Dinge ein, und Vater erklärte und erläuterte ununterbrochen.
    Endlich lernte ich, dass all das, was uns umgab, nicht einfach eine Landschaft oder – noch viel allgemeiner – die Natur war, sondern dass Landschaft und Natur aus vielen kleinen Bezirken und Bereichen bestanden, in denen es jeweils nur ganz bestimmte Pflanzen, Bäume und Tiere gab. Die Pflanzen, Bäume und Tiere waren also nicht einfach willkürlich und grundlos an die Orte geraten, an denen sie sich befanden, sie standen vielmehr miteinander in enger Verbindung.
    Die Entdeckung, dass die Welt um einen herum nicht einfach seit ewigen Zeiten so da ist, sondern in kleinste Bereiche zerfällt, die sich von anderen Bereichen unterscheiden und damit Eigenheiten aufweisen, die erst allmählich entstanden sind – diese Entdeckung machte ich während dieser Wanderungen und Spaziergänge mit meinem Vater zum ersten Mal.
    Ich empfand diese Entdeckung als so aufregend, dass ich von den neuen Worten und all den Erklärungen gar nicht genug bekommen konnte. In meinem Kopf löste der frisch entdeckte Wissensstoff ein angenehmes, anhaltendes Kribbeln aus, das ich, sobald die Wissenszufuhr ausblieb, selbst zu erzeugen versuchte, indem ich die Augen schloss und mir einige besonders seltsam klingende Namen oder Worte im Stillen vorsagte.
     
    Später hat mir Vater einmal einen kleinen Plan gezeigt, den ich damals auf dem Hof gezeichnet und auf dem ich beinahe seine gesamte Umgebung festgehalten habe. Dieser Plan bestand aus mehreren miteinander verklebten und auseinanderklappbaren Blättern und Seiten, auf denen eine kindliche, naive Hand mit den verschiedensten Buntfarben lauter kleine Reviere abgesteckt hatte. Es gab die Kahn-, Fischreiher-, Schwimm- und Fischreviere, es gab die Reviere der Auwälder in der Nähe meines Sees, es gab die Buchen- und Nadelbaumreviere, es gab Jagd-, Pferde- und Kühe-Reviere, und es gab, über den ganzen Plan verstreut und mit punktierten Linien verbunden, die Reviere der Raubvögel, die mehrere der anderen Reviere überflogen und beherrschten.
    War schon ein solcher Plan für mein damaliges Alter eine besondere Leistung, so faszinieren mich heute noch mehr die Zeichnungen und Einträge in den schwarzen Kladden, bei denen ich deutlich sichtbar Vaters minutiösen Zeichnungen nachgeeifert habe. Natürlich konnte ich nicht so gut zeichnen wie er, natürlich sah alles, was ich skizzierte, noch unbeholfen aus und war hier etwas zu dick aufgetragen und da noch etwas zu eckig und verschroben – wichtiger als diese Zeichenleistungen war, dass ich mir die Dinge um mich herum nicht mehr nur einprägte, sondern mir ihre besonderen Strukturen und Eigenheiten nun auch selbst erklären konnte. Hatte ich die Welt zuvor auf, wie man sagen könnte, blöde und einfache Weise als ein passives Medium erfasst, das alles aufsaugt, was man ihm vorsetzt, so begriff ich sie jetzt als eine Summe von kleinen Details, die zueinander gehörten.
     
    Die Auwälder in der Nähe meines Sees zum Beispiel hatten einen weichen und lockeren, dunklen und oft feuchten Boden, der beinahe überall so dicht zugewachsen war, dass die grünen, niedrigen Pflanzen das herumliegende Unterholz überwucherten und an den Stämmen und Ästen der Bäume hinaufkletterten. Dieses Wuchern und Wachsen nannte Vater einen Dschungel , und er sagte weiter dazu, dass die Natur in einem solchen Dschungel sich selbst überlassen sei und deshalb wild wachse.
    In meinen Augen brachte gerade dieses wilde Wachstum besondere Schönheiten hervor. Dazu gehörten die dichten Schlingsträucher, die sich in eleganten Spiralen an einem Stamm emporrankten oder auch der leicht und mühelos an jedem Baum in die Höhe kletternde Efeu, der an seinen Zweigen winzige Wurzeln ausbildete, mit denen er sich überall festklammern konnte. Besonders gut aber hatte ich mir den Namen der Nachtschattengewächse gemerkt, die in andere Büsche und niedrige Strauchpartien hineinwuchsen und sich dann allmählich so ausbreiteten, dass sie diese Büsche und Sträucher zudeckten.
     
    Aronstab, Goldstern, Springkraut, Schneeball und Geißblatt - ich lernte lauter Worte, von denen ich mir nicht vorstellen konnte, dass auch die Kinder in der Schule sie bereits kannten. In meinen Augen waren es Worte,

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