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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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die genau zu den kleinen Zeichnungen passten, Worte also, die diese Zeichnungen nicht nur abbildeten, sondern zum Klingen brachten.
    Manchmal näherte sich einer der Hofbewohner heimlich von hinten, wenn ich mit roten Ohren an meinem Gartentisch saß und meine Hausaufgaben machte. Dann beugte er sich vorsichtig über meine Schulter, so dass ich seinen Atem oder einen Windhauch spürte, und begann, leise einige der Worte zu entziffern und zu flüstern, die ich gerade aufgeschrieben hatte.
    Ich weiß noch genau, wie sehr mich dieses Flüstern und Säuseln erregte, es war, als wäre ich ein Zauberer, der lauter geheime und fremde Wörter notierte, die den anderen nicht geläufig waren, dabei aber magische Wirkungen hatten. Silberpappel zum Beispiel war ein solches Wort, Silberpappel hörte ich über die Maßen gern, denn das Flüstern dieses Wortes löste bei mir einen Schauer aus, der vom Nacken den ganzen Rücken hinab bis zum Becken reichte.
    Ich verhielt mich vollkommen regungslos, wenn ich ein solches Schauerwort hörte, ich tat nur noch so, als wollte ich weiterschreiben und als hörte ich nichts, und ich spitzte, wenn sich der Flüsterer wieder entfernt hatte, die Lippen, als könnte ich das geheimnisvolle Wort nachbilden und aussprechen.
     
    Konnte ich? Konnte ich all diese Klänge und Laute etwa längst insgeheim nachsprechen? Nein, noch war es nicht so weit, noch immer war etwas in mir blockiert und gehemmt. Und doch geschah gerade etwas sehr Wichtiges: Mit jedem neuen Tag hörte ich die Sprache ein wenig mehr klingen. Es waren keine beliebigen Worte und Sätze, die ich zu hören bekam, sondern Worte, die zu den Dingen gehörten und daher eine unverwechselbare Klanggestalt hatten. Deshalb begann ich ja nun auch, bestimmte Worte zu mögen und sie im Stillen immer wieder zu wiederholen. Nachtschattengewächse und Silberpappel gehörten zu diesen magischen Worten, neben denen es noch die gewöhnlichen, die langweiligen und die verrückten Worte gab.
     
    Ich hatte also damit begonnen, die Worte zu unterscheiden, und mit diesem Unterscheiden war der Anfang des Sprechens gemacht.

19
     
    AN ALL diesen Tagen, an denen ich so große Fortschritte machte, hörte ich von Mutter nichts. Ich vermutete, dass sie Vater und mir Briefe oder wenigstens doch einige Karten schickte, aber ich bekam solche Post nicht zu sehen. Wenn ich an sie dachte, hatte ich sofort das Bild der Kölner Wohnung vor mir, das mir allmählich jedoch immer fremder wurde. Warum hatten wir so viele Stunden am Tag in dieser Wohnung verbracht, anstatt hinauszugehen und die ganze Stadt zu erforschen?
     
    Mutter hatte immer den Eindruck erweckt, als fühlte sie sich nur in der Wohnung sicher und wohl und als wäre alles, was man im Freien zu sehen bekam, fremd und gefährlich. Als kleines Kind hatte ich mich ihrem Gefühlshaushalt angepasst, ich hatte genauso empfunden wie sie, jetzt aber, wo ich ein anderes, freieres Leben kennenlernte, kamen mir die langen Jahre in der Kölner Wohnung vor wie Jahre in einem Versteck oder, schlimmer noch, in einem Gefängnis, aus dem es irgendwann keinen Weg ins Freie mehr geben würde.
     
    Denn darauf, mich beinahe vollständig an sie zu binden, hatte Mutter von Anfang an alles angelegt. Der kleine Johannes – das war ihr Junge , ihr Kind und damit das Wertvollste, was von der Vergangenheit übrig geblieben war. Einen solchen Schatz hütete sie Tag und Nacht mit der größten nur denkbaren Wachsamkeit, nichts anderes durfte es zwischen ihr und ihrem Kind noch geben, nichts anderes durfte es beschäftigen und interessieren. Selbst der Vater näherte sich dem großen und einzigen Schatz ja nur auf eine gewisse Distanz und hatte zu ihm nicht denselben innigen Kontakt wie die Mutter. Mutter und einziger, übrig gebliebener Sohn – das war kein Bild von zwei Menschen, sondern eine mit allen Kräften und Klauen verteidigte und geschützte Symbiose.
    Nur das große Elend, das ich in der Schule erlebt hatte, hatte sie bewegen können, mich freizugeben und mit Vater auf das Land ziehen zu lassen. Die Mutter-Sohn-Symbiose hatte erste, schwere Risse bekommen und war nicht einfach wieder zu erneuern gewesen. Meine Mutter hatte die Trennung hingenommen, ich bin mir jedoch bis heute nicht sicher, ob sie während ihrer einsamen Tage in Köln nicht darauf gewartet hatte, mich wieder ganz zu sich nehmen und für sich behalten zu können.
     
    Im Westerwald aber erfuhr ich, wie gesagt, von ihren Gefühlen und Gedanken nichts, Vater

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