Die Erfindung des Lebens: Roman
sorgte dafür, dass ich ihre Post gar nicht erst zu lesen bekam. Für diesen harten, rigorosen Kurs hatte er sich offenbar entschieden, als er meine Fortschritte bemerkt hatte. Sein Programm schlug an und ebnete dem einzigen, übrig gebliebenen Sohn erste Pfade und Wege in die Freiheit – dem sollten keine Rückblicke auf die letzten Jahre und keine Gefühlsausbrüche meiner Mutter entgegenwirken.
Ich aber tat so, als machte mir Mutters Abwesenheit nichts aus. War es aber so, war es wirklich so? Einerseits spürte ich wohl instinktiv, dass es mit Mutter und mir nicht weitergehen konnte wie bisher. Wenn wir zusammen waren, nahmen wir mit niemand anderem Kontakt auf, wir igelten uns ein und berauschten uns an dem, was nur uns beiden gefiel und behagte. Andererseits aber liebte ich meine Mutter, ich liebte das ruhige und angenehme Zusammensein mit ihr, ich liebte es, wie sie mit den Gegenständen und Dingen umging, ich liebte ihren Geruch, der etwas Altertümliches und Feierlich-Schweres hatte, ja im Grunde liebte ich alles an ihr, selbst ihre Kleidung, selbst ihre Bewegungen. Seit meinen Kleinkindtagen hatten meine Augen vor allem ihre Gestalt und ihre Gesten im Blick gehabt, abgeschirmt von allzu vielen anderen, fremden Eindrücken, vollkommen fixiert auf die Nähe zu einer einzigen Person, von der ich mir alles Glück und alle Freude versprach.
Die Liebe zu ihr und zu allem, womit sie sich umgab, war also die stärkste Verlockung meines bisherigen Lebens. Nichts, außer dem Klavier, hatte bisher gegen diese Verlockung ankommen können. Die Gefahr, die diese Verlockung bedeutete, bestand jedoch darin, dass mein eigener Wille und meine eigenen Gefühle mit der Zeit ausgelöscht wurden. Ich hatte es ja jedes Mal gespürt, wenn ich aus der Schule nach Hause zurückgekommen war. Mit dem Betreten der Wohnung war ich wieder eingetreten ins Mutter-Reich, und mit diesem Eintritt hatte ich beinahe alles vergessen, was ich am Vormittag wahrgenommen hatte.
In einem solchen Haushalt konnte ich nichts lernen außer Klavier zu spielen, aber auch dann machte ich ja nicht meine eigene Musik, sondern spielte im Grunde nur die meiner Mutter. Alles, was ich spielte, klang in ihren Ohren wohl wie eine Fortführung der seltsamen Melodien und Gesänge, die sie so gern hörte, sie hatte selbst am Klavier solche Melodien zu spielen versucht, jetzt aber hatte ich mich an ihre Stelle gesetzt und brachte zum Klingen, was sie am liebsten selbst zum Klingen gebracht hätte.
Letztlich bestand die besondere Art der Verlockung, die von der intensiven Nähe zu ihr ausging, vielleicht darin, überhaupt nicht mehr handeln zu müssen. Ja, im Ernst: Das tiefste Moment dieser Verlockung war vielleicht die Verführung zu einer vollkommenen Passivität, zu einem Dahindämmern bei einigen Tassen Tee, einem Musikhören seltsamer Arien, einem Umblättern von Buch- und Zeitschriftenseiten.
Sich nicht mehr zu rühren, dabei aber die Nähe des anderen ununterbrochen zu wittern und zu spüren – darin bestand das Programm meiner Mutter, das mir das Leben auf Dauer verführerisch leicht gemacht hätte. Längst war ich ja bereits mit den besonderen Stoffen und Atmosphären dieses Programms geimpft und hatte deshalb manchmal nicht mehr herausgefunden aus der Regungslosigkeit und dem stundenlangen Dasitzen und Lauschen.
So war ich ein idealer Kirchgänger geworden: Ein Kind, das sich selbst während der längsten Hochämter und Gottesdienste kaum regte, das geduldig kniete, aufstand und wieder hinkniete, das auf jedes Wort und jeden Klang lauschte und all diesen Gehorsam aus Liebe zu Gott leicht ertrug, weil die Liebe zu Gott ja nur eine höhere Stufe der Liebe zur eigenen Mutter war.
Was Liebe war, das also glaubte ich zu wissen. Liebe war das Wort, das in der Kirche am häufigsten vorkam, Liebe – das war die Liebe zu Gott und die Liebe zur Mutter. Liebe bestand darin, den eigenen Willen aufzugeben und an nichts anderes mehr zu denken als an Gott oder einen anderen Menschen. Wenn man so an Gott oder einen anderen Menschen dachte und ihn mit aller Kraft liebte, sah und spürte man nur noch den Einen oder die Eine. Was man dabei empfand, war der Friede. Im Frieden gab es nichts Störendes mehr, keine Vergangenheit, keine Zukunft. Der Friede war das, was man in der Kirche die Ewigkeit nannte. Von Ewigkeit zu Ewigkeit , so betete man ja jedes Mal in der Kirche, und von Ewigkeit zu Ewigkeit waren gewiss für ein Kind keine leicht verständlichen
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