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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Worte.
    Ich aber glaubte sie zu verstehen, denn von Ewigkeit zu Ewigkeit – das war nichts anderes als das Leben mit meiner Mutter. Wenn wir zusammen waren, lebten wir, als lebten wir in einer Ewigkeit , wir achteten nicht mehr auf die Stunden, wir ließen sie verstreichen, sie bedeuteten uns nichts. Irgendwann wurden wir darin unterbrochen oder etwas kam uns dazwischen, dann setzten wir eine Zeit lang mit der Ewigkeit aus. Doch wir hatten die nächste Ewigkeit schon im Kopf, ja wir dachten an sie über jedes kleine Hindernis einfach hinweg.
     
    Wenn ich auf dem Land an Mutter dachte, erinnerte ich mich sofort daran. Aber ich hatte nun gelernt, mit welchen Mitteln ich dagegen ankommen konnte: Ich musste unterwegs sein, ununterbrochen, ich durfte nicht nachlassen, die Welt zu verstehen und zu begreifen. Bei diesem Verstehen und Begreifen ging es nicht um Ewigkeiten , sondern um die Geschichte . Die Welt und alle Wesen und Dinge auf ihr hatten eine Geschichte , das war das Gegenteil der Ewigkeit und bedeutete den Anfang des wirklichen Lernens.
     
    Das alles hatte ich ja nun konkret erfahren und auch begriffen, meine Gefühle und meine Liebe zur Mutter jedoch hatte ich mit diesem Begreifen noch nicht völlig abtöten können. Jeden Tag dachte ich an sie, und immer waren diese Gedanken und Erinnerungen mit einem plötzlichen Erstarren verbunden, als berührte sie mich noch aus der Ferne und als wollte sie mich veranlassen, in meiner Arbeit und meinem Tun innezuhalten und mich wieder ganz auf sie zu besinnen. In solchen Momenten standen mir Tränen in den Augen, meine Zunge wurde trocken und das Schlucken fiel mir schwer. Es war wie ein fortwährender, noch längst nicht entschiedener Kampf, ein Kampf mit den alten Bildern und Schrecken, die ich anscheinend nicht loswurde, solange ich von Mutter nichts hörte und sie nicht sah.
     
    Dann aber geschah etwas Merkwürdiges, denn an einem Abend nahm mich Vater beiseite und ging mit mir zu dem unterhalb des Hofes rauschenden kleinen Wehr, in dessen Nähe sich oft die dicken Gänse aufhielten. Ich verstand nicht, warum er mit mir dorthin ging, das Wehr galt als gefährlich und einmal hatte man sogar einen guten Schwimmer in höchster Not dort kurz vor dem Ertrinken aus dem Wasser gezogen. Wir gingen jedoch noch weiter als nur bis zum Wehr, wir ließen es hinter uns und standen dann weit unterhalb des Hofes, zu dem wir von einer tief gelegenen Wiese aus aufschauen konnten. Vater hatte eine Decke dabei und breitete sie aus, und ich vermutete, dass er mir jetzt wieder etwas erklären wollte.
     
    Ich setzte mich zu ihm auf die Erde, ich schaute zu Hof und Gastwirtschaft hinauf, ich hörte das Wehr im Hintergrund rauschen, als ich bemerkte, dass Vater einen Brief dabeihatte. Ich hatte nicht sehen können, wo er ihn her hatte, er hielt ihn plötzlich in der Hand, als habe er ihn hervorgezaubert, und dann sagte er, dass dies ein Brief meiner Mutter sei und dass er mir diesen Brief jetzt vorlesen werde …
     
    Ich muss meine Erzählung hier kurz unterbrechen, denn ich muss zugeben, dass es mir nicht leichtfällt, diesen Brief, den ich ein Leben lang aufbewahrt und sogar hierher, mit nach Rom, genommen habe, wiederzugeben. Um ihn wiederzugeben, brauche ich nicht nach ihm zu schauen und ihn hervorzuholen. Es ist vielmehr tatsächlich so, dass ich diesen Brief auswendig kenne. Ich habe mich zu den verschiedensten Zeiten meines Lebens an ihn erinnert, manchmal nur an bestimmte Stellen, manchmal habe ich aber auch irgendwo auf der Welt an einem ruhigen Ort gesessen und mir die Sätze dieses Briefes im Stillen vorgesagt.
     
    In diesem Brief gibt meine Mutter mich frei, ohne Wenn und Aber. Sie stellt keine Bedingungen mehr, sie tritt zurück. Mit jedem Satz löst sie den engen Kontakt zwischen uns, der uns am Ende beinahe erstickt hätte, ein wenig mehr auf. Ich vermute, dass es beinahe über ihre Kräfte ging, diesen Brief zu schreiben, und ich verstehe bis heute nicht, wie sie es überhaupt fertiggebracht hat, so etwas zu tun.
    Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wo sie diesen Brief geschrieben hat. In unserer Wohnung? An einem anderen, eher abgelegenen, einsamen Ort? Ich habe mit ihr niemals darüber gesprochen, wir haben über diesen Brief einfach nicht sprechen können. Mein Vater hat ihn mir langsam vorgelesen, und ich habe ihn dabei nicht angeschaut, sondern ununterbrochen auf den Hof und das Wehr geblickt. Während mein Vater las, habe ich begriffen, warum er diese besondere

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