Die Erfindung des Lebens: Roman
Stelle für das Vorlesen des Briefes ausgesucht hatte: Ich sollte den Ort im Blick behalten, an dem ich bereits so viel gelernt hatte, und ich sollte das Wehr dabei rauschen hören, damit ich nicht mitbekam, wie meinem Vater ab und zu die Stimme versagte.
Mein lieber Junge, wir haben uns nun schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen, und ich sehne mich jeden Tag danach, dass wir endlich wieder zusammen sind. Jeden Morgen gehe ich ohne Dich nach draußen, und immer wieder fragen mich die Leute in den Geschäften, ob Du krank bist, wo Du Dich aufhältst und wann Du wiederkommst. Für mich ist es nicht leicht, diese Fragen zu hören und durch sie auch noch von anderen darauf hingewiesen zu werden, wie sehr Du mir fehlst. Du fehlst mir sehr, ja, das weißt Du, in den ersten Tagen unserer Trennung habe ich es beinahe nicht ausgehalten ohne Dich und Vater einen Brief nach dem andern geschrieben, um ihn zu bitten, zu Euch kommen und mit Euch zusammen sein zu dürfen. Vater aber meinte, dass es für Dich, mein lieber Junge, besser wäre, einige Zeit ohne mich zu verbringen, und so habe ich mich gefügt, wenn auch nicht ohne so manche Träne. Geholfen haben mir schließlich aber die Nachrichten, die ich von Vater zu hören bekam: dass es Dir gut gehe, dass Du Dich vom ersten Tag an ohne jedes Aufmurren eingelebt hättest, dass Du morgens regelmäßig Klavier üben würdest und schließlich, dass Du angefangen hättest zu zeichnen und zu schreiben. Ich habe bemerkt, dass Vater stolz auf Deine Fortschritte war, ja, dass er sogar davon begeistert war, wie gut es mit Dir voranging. Mit der Zeit habe ich mir Vorwürfe gemacht, dass ich selbst in der Vergangenheit so wenig dazu beigetragen habe, dass Du etwas lernst und vorankommst. Im Grunde habe ich dazu überhaupt nichts beigetragen, nein, wirklich nicht, ich habe früher nicht einmal darüber nachgedacht, wie Dir etwas beizubringen wäre, und dass ich Dir nichts beigebracht habe, ist mir elenderweise sogar erst so richtig aufgefallen, als Du nicht mehr hier warst und ich von Deinen Fortschritten hörte. Mein lieber Junge, es tut mir leid, dass ich Dir nicht die Mutter sein konnte, die Du gebraucht hättest, um ein Junge wie alle anderen Jungen zu werden. Stattdessen hattest Du eine Mutter, um die Du Dich auch noch kümmern musstest, als wäre sie selbst nicht lebensfähig und als müsste man ihr wie einem kleinen Kind beibringen, was als Nächstes zu tun ist. Was ich für diese oft so hilflose, zerstreute und geistesabwesende Mutter geltend machen kann, ist aber, dass sie Dich über alle Maßen gern gehabt hat und gern hat. Das, mein lieber Junge, hat sie wirklich und das wird sie ein Leben lang tun. Eben gerade deshalb aber, weil Deine Mutter Dich so gern hat wie sonst nichts auf der Welt außer Deinem Vater, müssen wir jetzt beide versuchen, ein anderes Leben zu führen als bisher. Ich darf Dir nicht mehr im Weg stehen, ich muss Dir helfen, noch weitere Fortschritte zu machen und einmal ein guter Schüler zu werden. Genau das habe ich Deinem Vater nun versprochen und mit ihm einige Vereinbarungen getroffen, an die ich mich halten werde. Zu diesen Vereinbarungen gehört, dass Du in Zukunft nicht mehr so lange Zeiten wie bisher mit mir allein in unserer Wohnung verbringen wirst. Du wirst nach Deiner Rückkehr hierher nach Köln wieder in die Schule gehen, Du wirst Freunde gewinnen und Du wirst ein Leben führen, wie es andere Jungen auch führen, das verspreche ich Dir. Bevor Du jedoch zurückkommst, werde ich Euch auf dem Land besuchen, auch das habe ich mit Vater nun so vereinbart. Ich freue mich so sehr darauf, Dich wiederzusehen, ich kann es gar nicht erwarten. Mein lieber Junge, ich sage es noch einmal: ich habe Dich sehr gern, vergiss das nie, und über das andere, über all das, was Deine Mutter einmal so sehr gequält und dazu geführt hat, dass sie Dir keine richtige Mutter sein konnte, sprechen wir einmal, wenn Du noch etwas größer bist. Wichtig ist jetzt nur, dass ich mir große, ja alle Mühe geben werde, eine bessere Mutter zu sein. In Liebe …
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WAS FÜHLT ein Junge von sechs, sieben Jahren, wenn er einen solchen Brief seiner Mutter zu hören bekommt? Ich jedenfalls war drauf und dran, meinen kleinen Koffer zu packen und zu verlangen, sofort wieder zurück nach Köln gebracht zu werden. Wie sollte ich denn verstehen, dass meine Mutter sich anklagte, keine gute Mutter gewesen zu sein, und versprach, in Zukunft eine bessere Mutter sein zu
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