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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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den ersten Blick, dass sie völlig überrascht und fassungslos war. Sie hatte die Schultern hochgezogen, als fürchtete sie sich vor etwas, sie saß angespannt da, als wäre sie geradezu entsetzt und als zöge sie den Kopf ein, weil die Welt um sie herum gleich zusammenzustürzen drohte. Eben hatte sie noch den Beifall und die Eleganz ihres Auftritts genossen, jetzt aber hatte ich meinen eigenen Auftritt folgen lassen, keine Kompositionen von Chopin, sondern glasklare Sätze, da ist …, da ist …, und da ist …
    Sie war gar nicht fähig, auf diesen Auftritt zu reagieren, sondern sie hielt sich die rechte Hand vor den Mund, als wäre gerade etwas Schreckliches, ja geradezu Furchtbares geschehen. Auch die anderen Teilnehmer an der festlichen Mahlzeit rührten sich nicht, sondern starrten mich an, als wäre ich ein außerirdisches Fabelwesen, das gerade aus dem Weltall gekommen und an diesem Tisch gelandet wäre. Es war wieder still, und die Stille kam mir noch schlimmer und anstrengender vor als die Stille nach dem Tischgebet und den Begrüßungsworten des Onkels. Warum sagt denn niemand etwas? , dachte ich, warum, verdammt, sagt nicht endlich jemand einen ersten, freundlichen Satz? Und warum, verdammt, bekomme ich keinen Beifall?
     
    Niemand, wirklich niemand sagte zunächst einen Ton, alle waren anscheinend noch viel zu sehr damit beschäftigt, zu begreifen, was gerade geschehen war. Niemand sagte etwas, niemand klatschte, dann aber begann endlich doch jemand zu sprechen, und er tat es auf eine Art und Weise, die mir noch heute den größten Respekt und alle Bewunderung abverlangt.
    Es war mein Vater, der endlich zu sprechen begann, mein Vater hatte sich zuerst gefangen, vielleicht gelang ihm das in diesem schwierigen Augenblick besser als den anderen, weil er meine täglichen Fortschritte am besten von allen mitbekommen und immer daran geglaubt hatte, dass sein Sohn einmal sprechen würde.
    Das Erstaunliche war nur, dass Vater mit keiner einzigen Bemerkung auf mein Sprechen einging, dass er es weder kommentierte noch mich lobte, sondern aufstand und auf die Gastwirtschaft zeigte: Und was ist das, Johannes?, fragte mein Vater.
     
    Perfekt! Mein Vater fragte mich, was das war, so wie er die ganzen letzten Wochen für mich gefragt und mir gezeigt hatte, was dieses oder jenes Ding da vor meinen Augen war. Mein Vater forderte mich also auf, vor den anderen das Frage- und Antwort-Spiel mit ihm zu spielen, mein Vater verlangte noch mehr von mir, mein Vater war nicht damit zufrieden, dass ich eine Kostprobe meines Sprechens oder ein paar luftige Kompositionen zum Besten gab, mein Vater wollte, dass ich den ganzen Reichtum meines neuen Wissens zeigte.
     
    Ich stand auf, so wie er, ich stand jetzt hinter dem Tisch und schloss die Augen, und dann setzte ich wieder an: Das ist die Wirtschaft. Das ist der Eingang mit einem Geländer. Das ist die Laterne. Das ist die Wand mit den Fenstern. Das ist der Balkon und der Balkonstuhl und der Balkontisch und die Balkonpflanze. Das ist das Dach und die Traufe und der First. Das ist der Schornstein und der Giebel und das Giebelfenster …
     
    Da hörte ich, dass geklatscht wurde, ja, es wurde wirklich geklatscht! Das Klatschen wuchs und wurde lauter, und nun waren auch die ersten Stimmen zu hören, anfeuernde Stimmen, Stimmen, die mich zu Höchstleistungen anspornen wollten, gleichzeitig aber wurde auch auf den Tisch getrommelt, als wollte jemand den Rhythmus zu meinen Worten und Aufzählungen klopfen, weiter, weiter, ich machte weiter, das Weitermachen war für mich ja kein Problem, ich hätte die halbe Nacht weitermachen können, schließlich hatte ich Hunderte, ja vielleicht sogar Tausende Worte auf Lager.
     
    Dann aber spürte ich, dass mich jemand an der Schulter berührte, ich öffnete die Augen, Vater packte mich jetzt an der Schulter, und ich sah, dass er mir vormachte, wie ich mich verbeugen sollte. Ich sollte mich also zum Klatschen der anderen verbeugen, tief verbeugen sollte ich mich, mehrmals, wie ein Klavierspieler nach seinem großen Auftritt sollte ich mich verbeugen.
     
    Ich trat einen Schritt vom Tisch zurück, und dann verbeugte ich mich tief, wie Vater es mir gezeigt hatte, alle lachten und freuten sich, nur Mutter saß noch immer fassungslos hinter dem Tisch und schaute mich an, als könnte sie nicht begreifen, was ich gerade vollbracht hatte.
    So stand ich minutenlang und verbeugte mich immer wieder nach allen Seiten, bis Vater mich an der Hand nahm und mit

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