Die Erfindung des Lebens: Roman
gleichzeitig zu hassen begann und dass dieselbe Liebe und derselbe Hass dem Spiel meiner Mutter galten, das nicht aufhören wollte, sondern einen Walzer nach dem andern kredenzte, Walzer für Walzer, und alle waren sie Walzer des Komponisten Frédéric Chopin.
Beinahe eine halbe Stunde, behauptete Vater später einmal, habe Mutter damals gespielt, und am Ende habe selbst das Küchenpersonal ein wenig gemurrt, weil man kein abendliches Konzert, wohl aber eine Abendmahlzeit in mehreren Gängen geplant hatte, die nun alle warm gehalten werden mussten, über eine halbe Stunde lang.
Dann aber war es vorbei, und der Beifall war groß, und mein Vater umarmte meine Mutter, die nun endlich nach draußen ging und sich dort weiter feiern und an ihrem Ehrenplatz in der Mitte des langen Tisches platzieren ließ. Nach ihrem Spiel hatte sie nicht nach mir geschaut, sie hatte mich übersehen oder nicht mehr an mich gedacht, auch das schmerzte mich, sie war also nach draußen geeilt, um den Beifall und das Lob zu genießen, darauf war es ihr angekommen, nicht aber darauf, den Abend vor allem als jenen Abend zu feiern, an dem sie ihren einzigen, geliebten Sohn nach langer Trennung wiedersah.
Am Ende ihres Auftritts saß ich also wahrhaftig allein in der Gaststube. Nur mein Onkel Hubert war noch in meiner Nähe, na, Johannes , fragte er, willst Du uns später auch noch was spielen? Ich stand auf und schüttelte den Kopf, nein, ich wollte auf keinen Fall später noch irgend ein Stück spielen, dessen Komponist kein Mensch genau kannte und das keiner unbedingt hören wollte, nein, das wollte ich auf gar keinen Fall.
Ich verließ die Gaststube und ging draußen zu dem langen Tisch, an dem schon die meisten Hofbewohner Platz genommen hatten, ich sah, dass Mutter in der Mitte einer Tischseite saß und anscheinend direkt neben ihr ein Platz auch für mich vorgesehen war. Ich wollte aber jetzt nicht neben ihr sitzen, ich war völlig verbockt, ihr Auftritt hatte mich tief gekränkt, in meinen Augen hatte sie mit den dürftigen Walzern Chopins auf meine Kosten einen billigen Sieg errungen.
Und so ging ich nicht hinüber auf ihre Tischseite, sondern zu der anderen Seite und setzte mich ihr genau gegenüber, Auge in Auge mit ihr wollte ich dieses Abendessen hinter mich bringen, und ich hatte mir vorgenommen, kein einziges Mal zu lächeln oder sonst eine freundliche Geste zu machen. Willst Du denn nicht neben Deiner Mutter sitzen?, fragte mich jemand, ich aber tat, als hätte ich die Frage nicht gehört, sondern setzte mich einfach hin, die Tischordnung musste wohl rasch geändert werden, aber das alles interessierte mich nicht, ich saß nicht neben Mutter, sondern ihr gegenüber, und nur darauf kam es jetzt an.
Endlich nahmen dann alle Platz, und Onkel Hubert sprach das Tischgebet. Danach sagte er noch zwei oder drei Sätze zu Mutters Begrüßung, und dass alle an diesem Tisch sich über ihre Anreise aus Köln freuten. Einen Moment war es in dem von vielen Fackeln zusätzlich erleuchteten Garten beinahe andächtig still, ich glaubte sogar, den nahen Fluss rauschen zu hören, so still kam es mir in diesem Moment vor. Der Onkel wünschte allen schließlich einen guten Appetit und setzte sich wieder …, als ich, noch in die Stille hinein, zu sprechen begann: Da ist eine Suppenschüssel, und daneben ist eine Suppenkelle. Da ist ein Unterteller, da ist ein flacher Teller, da ist ein tiefer Teller. Der tiefe Teller ist ein Suppenteller, der kleine Teller ist ein Nachspeisenteller. Da ist eine Soßenschüssel mit einem Soßenlöffel. Da ist eine Gemüseschüssel, und daneben ist eine Salatschüssel, und daneben ist das Salatbesteck. Da ist Salz, da ist Pfeffer. Da ist Öl, da ist Essig. Da ist ein Messer, da ist eine Gabel, da ist ein Löffel. Da ist eine Salatgabel, da ist ein Salatlöffel, da ist ein Wasserglas, da ist ein Bierglas, da ist ein Bierhumpen, da ist ein Weinglas. Da ist ein Weißweinglas, da ist ein Rotweinglas. Da ist der Brotkorb, da ist Brot …
Während ich das alles aufsagte, hatte ich die Augen geschlossen. Ich brauchte mir die Dinge auf dem Tisch nicht lange anzuschauen, ich hatte ihre Bilder im Kopf, und indem ich mich an die Bilder erinnerte, erinnerte ich mich an die Worte. So sprach ich nicht von dem schön gedeckten Tisch vor meinen Augen, sondern von dem mit Bildern und Worten gedeckten Tisch in meinem Kopf.
Als ich fertig war und die Augen wieder öffnete, schaute ich Mutter an und erkannte auf
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