Die Erfindung des Lebens: Roman
alles wollte er in wenigen Tagen erkunden und genießen, es durfte einfach nichts mehr geben, was uns abschreckte oder von einem Vergnügen abhielt, nein, wir sollten alles kennenlernen , alles, aber auch wirklich alles!
Anfänglich machte meine Mutter bei solchen Reisen noch mit, aber dieses unruhige, nimmersatte und draufgängerische Unterwegssein war im Grunde nicht ihr Fall. Sie wollte sich länger an bestimmten Orten aufhalten können, sie wollte lesen, und zwar täglich eine bestimmte Ration, mit Vater war das aber nicht gut möglich, so dass sie sich bestimmten Unternehmungen oft entzog und Vater und Sohn am frühen Morgen allein aufbrechen ließ.
Meinem Vater war das nicht recht, er verstand nicht, wie meine Mutter bei sehr schönem Wetter das Sitzen und Lesen in einem Gartenlokal am Rhein einer mehrstündigen Schifffahrt auf demselben Fluss vorziehen konnte. Da er sich jedoch daran gewöhnt hatte, meine Mutter nicht zu kritisieren, und da er überhaupt ein Mensch war, der anderen nichts vorschreiben wollte, äußerte er sich zu ihrem Verhalten lieber nicht.
Vielleicht hatten wir beide, Vater und Sohn, während unseres Landaufenthalts auch bestimmte, andere Menschen ausschließende Eigenheiten des Zusammenlebens entwickelt, heute erscheint mir das sehr wahrscheinlich, damals aber bemerkte ich das natürlich nicht und dachte deshalb auch nicht weiter darüber nach.
Nicht zu übersehen war jedenfalls, dass wir beide während der Reisen eine geradezu ideale Kombination abgaben. Durch unser wochenlanges Naturstudium hatten wir uns daran gewöhnt, den Dingen auf den Grund zu gehen und die Umgebung weniger als einen zufälligen, denn als einen gewachsenen Raum zu betrachten. Um sich diesen Raum zu erklären, machte mein Vater die seltsamsten Anstalten: Er verwickelte die Menschen auf der Straße in ein Gespräch, er besuchte Wirtschaften und Kneipen, er fuhr mit mir den halben Tag in Straßenbahnen und Bussen – und das alles nur, um auf möglichst direkte Weise Informationen zu sammeln, nebenbei noch unterhalten zu werden und das, was er Land und Leute nannte, schließlich auch noch in vollen Zügen zu genießen.
Der körperliche, sinnliche Genuss – er spielte bei Vaters Reiseplänen eine nicht zu unterschätzende Rolle. All die Kenntnisse, die wir uns tagsüber aneigneten, kulminierten nämlich letztlich in einer Ausübung der von ihm so bezeichneten Sinnenfreuden (wie etwa schwimmen, spazieren gehen, trinken und essen) , so dass man Vater kein größeres Vergnügen machen konnte, als abends in einer ländlichen Wirtschaft zu sitzen und mit den Einheimischen über die vielfältigen Aspekte ihres Landlebens zu reden.
Meine Mutter langweilte das nicht nur, nein, meine Mutter fand an diesen sich bis tief in die Nacht hinziehenden Gesprächen überhaupt kein Gefallen. Nachdem sie mit uns zu Abend gegessen hatte, verließ sie uns und legte sich ins Bett, der lange Abend war die Zeit der schönen Lektüren, während mein Vater dieselbe Zeit für seine sehr eigenen, letztlich aber immer auf Information zielenden Formen der Konversation nutzte.
Ich selbst aber konnte mich oft nicht entscheiden. Manchmal, wenn mich eine bestimmte Lektüre sehr lockte, folgte ich Mutter auf ihr Zimmer und ließ mir dann etwas vorlesen, manchmal blieb ich jedoch auch bei Vater und seinen meist männlichen Trinkkollegen und hörte zu, wie viel ein bestimmter Weinberg während eines Jahres an Einkünften brachte oder wie ein bestimmter Landrat es geschafft hatte, den gesamten Landkreis für seine Motorsägenfabrik einzuspannen.
Mit der Zeit aber kippte die Waage dann doch nach einer Seite, und diese Seite war die meines Vaters. Mit meiner Mutter war ich in Köln lange und häufig genug zusammen, auf Reisen dagegen sehnte ich mich nach Abwechslung und nach Gesprächen mit anderen Menschen, außerdem hatte ich ein großes Vergnügen an jener temperamentvollen und offenen Lebensweise, die mein Vater so mühelos kultivierte.
Daher reisten wir nach einiger Zeit nur noch zu zweit. Wir reisten zu den Salzburger Festspielen, wo ich zum ersten Mal einen großen Solo-Abend eines weltweit gefeierten jungen kanadischen Pianisten miterlebte, wir reisten an den Bodensee und nach Berlin, Wien, Prag und Paris, wir fuhren auf Fahrrädern die Mosel, den Main und den Rhein entlang, wir bestiegen ein Frachtschiff, um von Rotterdam aus halb Europa zu umrunden und erst in Istanbul wieder an Land zu gehen …
All diese Reisen von
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