Die Erfindung des Lebens: Roman
abbrechen sollte, eine solche Aktion kam mir aber zu eigensinnig und divenhaft vor, nein, ich war nie ein zickiger Jungpianist im Stile einiger zickiger Altmeister gewesen, das zickige Klavierspiel Arturo Benedetti-Michelangelis zum Beispiel hatte mir nie etwas bedeutet, obwohl es damals, als ich am römischen Conservatorio studiert hatte, als das Nonplusultra des italienischen Virtuosentums gegolten hatte.
Also weiter und, wie immer, nicht auf die Umgebung geachtet! Und so spielte ich den ersten Satz des Italienischen Konzerts von Johann Sebastian Bach zu Ende und empfand dieses Spiel sogar als ein großes, wiedergefundenes Glück, warum hatte ich mich bloß so lange dagegen gesperrt, wieder einmal Klavier zu spielen, warum hatte ich mich so lange von der schwersten Krise meines Lebens, die unter anderem dazu geführt hatte, dass ich das Klavierspiel abgebrochen hatte, entmutigen lassen?
Auch von dieser Krise erzähle ich an dieser Stelle meiner Lebenserzählung noch nichts, denn diese Passage meiner Erzählung hier ist ja eine rundum glückliche, ich spielte wieder Klavier und indem ich spielte, lockte ich die Bilder des kleinen Knaben wieder an, der damals …, damals zum Schluss des langen Landaufenthalts auf dem Klavier in der Gaststube der großväterlichen Gastwirtschaft einmal Bachs Italienisches Konzert gespielt hatte.
Das Kind sitzt an einem halbwegs gestimmten Instrument, das Kind beherrscht dieses Stück, seit Kurzem beherrscht es auch das Sprechen einigermaßen, vor allem aber hat es jetzt eine Mutter, die wieder spricht, mühelos, ja sogar so gewandt, dass das Kind sie überaus gern sprechen und vorlesen hört, keine Stimme hört das Kind lieber als die Stimme seiner Mutter …, und während in der Gaststube die halbe Belegschaft der Wirtschaft und beinahe all ihre Bewohner versammelt sind, gehen in der Küche drei junge Köchinnen der Vorbereitung des abendlichen Abschiedsessens nach …, auf dem langen Küchentisch liegen die großen, glänzenden Fleischstücke und die frisch gefangenen Forellen, und daneben liegen Berge von Pfifferlingen, Steinpilzen, Hallimasch und Morcheln, die Vater und ich im nahen Wäldchen gefunden haben …
Ich spiele weiter und weiter, und kurz vor dem Ende gehen die alten Bilder vor lauter Vorfreude über in die Bilder meines eigenen Tisches in der Wohnung gleich nebenan, auch dort ist ja der Tisch festlich und üppig gedeckt, es gibt zwar keine Pfifferlinge und keine Morcheln, wohl aber weiße Trüffeln. Die letzten Töne, der Schlussakkord! … – und Antonia und Marietta beginnen zu klatschen, es ist ein Klatschen, das sofort überspringt, hinunter auf den weiten Platz vor dem Wohnhaus, auf dem sich anscheinend Gruppen von Zuhörern versammelt haben, um das Fest dieses glücklichen Moments mit uns zu begehen …
III
Die Flucht
25
ALS WIR zu dritt nach Köln zurückkehrten, war alles anders als zuvor. Wir waren nicht mehr eine in vielen Hinsichten hilflose und beeinträchtigte Familie, sondern ein inzwischen stark gewordenes Trio, dessen Mitglieder jetzt ihre jeweils eigenen, aber durchaus auch gemeinsame Ziele verfolgten. Jedes dieser Mitglieder konnte sich nun alleine behaupten, jedes hatte seine besonderen Aufgaben und Pflichten, und doch spielte dieses Trio inzwischen auch zusammen und bemühte sich, die neu erworbene Sicherheit zu festigen und auszubauen.
So arbeitete meine Mutter nur wenige Wochen nach unserer Rückkehr wieder in einer Bibliothek. Als ausgebildete Bibliothekarin und langjährige Leiterin einer Bücherei auf dem Land fand sie sich schnell zurecht, sie liebte ihre Arbeit sehr, und wir alle hatten von dieser Tätigkeit schon deshalb viel, weil sie alle paar Tage einige neue Bücher mitbrachte, die sie vor deren Auszeichnung mit einer Signatur und vor der Einreihung in das Ausleihkontingent unbedingt lesen wollte.
Auch in den vergangenen Jahren hatte sie sich durch ihre täglichen Lektüren auf dem neusten Stand gehalten, sie hatte sich durch ihre Krankheit nicht abhängen lassen, nein, im Gegenteil, die Krankheit hatte letztlich sogar dazu beigetragen, dass sie noch viel mehr gelesen hatte als in früheren Jahren.
Wegen dieser ausschweifenden Lektüren wurde sie in der Bibliothek eine geschätzte Ansprechpartnerin für viele Leserinnen und Leser, die ein ganz bestimmtes Buch oder aber ein Buch suchten, das ihrem persönlichen Lesegeschmack entsprach. Meine Mutter musste die Kunden der Bücherei also gut kennen,
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