Die Erfindung des Lebens: Roman
oder Gefühle machen. Dass etwas gut, schlecht, schön, hässlich, unangenehm oder angenehm war, sagte ich also nicht, wohl aber konnte ich sagen, dass ein Pilz dick, eine Maus flink oder ein Fluss breit war.
Die Erweiterung meines mit Vaters Hilfe aufgebauten einfachen Wortschatzes ließ freilich nicht lange auf sich warten, denn die Quelle für diese Erweiterung war ja zur Hand: Es war die Bibliothek, aus der meine Mutter beinahe täglich Bücher mitbrachte, ja es war die Lesewelt meiner Mutter insgesamt, in die ich schon deshalb gleich eintauchte, weil ich seit den frühsten Kindertagen eigentlich auf nichts so neugierig gewesen war wie auf alles, was in den Büchern stand.
Ohne dass mich jemand angeleitet hätte, begann ich daher bald, auch aus den gelesenen Büchern Sätze und kürzere Abschnitte abzuschreiben. Es handelte sich um Passagen, die ich behalten oder von denen ich Teile in meinen Wortschatz einbauen wollte, oder es handelte sich um Stellen, die ich für besonders schön hielt, meist aber gar nicht bis in Letzte verstand. Gerade jene Stellen, die mir etwas dunkel oder jedenfalls anspielungsreich oder schwer verstehbar erschienen, hielt ich nämlich damals noch für besonders schön , in ihnen kamen Worte wie Analyse, Stigma oder Volumen vor, die einen magischen Klang hatten und hinter denen sich nach meinen Vermutungen lauter Geheimnisse verbargen.
Mein tägliches Notieren von neuen und seltsamen Worten aus meiner Umgebung machte zusammen mit dem Abschreiben von merkwürdigen oder gar schönen Stellen aus den Büchern ein unentwegt schreibendes Kind aus mir, das freilich keinen einzigen Satz aufschrieb, den es sich selbst ausgedacht hatte. Ich schrieb also ab, ich exzerpierte und ich kombinierte meine jeden Tag wachsenden Wort- und Satz-Sammlungen unaufhörlich, ohne je irgendeinen persönlichen Eindruck von der Welt um mich herum festzuhalten.
Begleiteten uns Freunde oder Bekannte auf einem Spaziergang, wunderten sie sich nicht wenig, wenn ich sofort, nachdem wir in einer Gartenwirtschaft Platz genommen hatten, damit anfing, die Speisekarte oder den Aufdruck einer Limonadenflasche abzuschreiben. Jede Eintragung stand unter einem genauen Datum, ich fixierte den Tag und die Uhrzeit, dann ging es los. Zwischen die in meiner Umgebung gefundenen Texte mischten sich die aus Büchern abgeschriebenen, daneben aber gab es kleine Zeichnungen, Skizzen und Ausschnitte aus Zeitungen oder Zeitschriften, die ich noch zusätzlich in meine Kladden klebte.
Bei flüchtiger Betrachtung hätte man durchaus denken können, dass es sich bei diesen Kladden um Objekte eines naiven oder auch wahnsinnigen Künstlers handelte, so einen geradezu manisch systematischen und irritierend kleinteiligen Eindruck machten sie. Und wahrhaftig habe ich in späteren Jahren viele Projekte und Installationen von Künstlern kennengelernt, die gewisse Ähnlichkeiten mit meinen früheren Schreibbüchern aufwiesen.
Seit ich mit diesen Kladden angefangen habe, habe ich sie gesammelt, keine einzige ist je verschwunden, und da ich diese Kladden bis zum heutigen Tag – wenn auch später in anderer Form – weitergeführt habe, ist inzwischen eine große Sammlung entstanden, die auf einem Gelände untergebracht ist, das ich bis heute Die Familienphantasie nenne.
Dieses Gelände befindet sich ganz in der Nähe der großelterlichen Gastwirtschaft, vor der ich den ersten Satz meines Lebens sagte, und es befindet sich gleichzeitig auch ganz in der Nähe des Wohnhauses meiner mütterlichen Großeltern. Ein Geodät wie mein Vater hat einmal errechnet, dass Die Familienphantasie zusammen mit den beiden großelterlichen Häusern fast exakt ein gleichschenkliges Dreieck bildet.
Die Familienphantasie ist also ein utopischer, konstruierter Raum. Er entstand, als wir in Köln ein wenig zur Ruhe gekommen waren und begannen, uns in regelmäßigen Abständen nach einem Aufenthalt auf dem Land zu sehnen.
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SEIT WIR das Land wieder verlassen hatten, war nämlich die Sehnsucht, noch einmal oder immer von Neuem solche Tage wie in jenen unvergesslichen Sommer- und Herbstwochen zu erleben, ununterbrochen vorhanden. Natürlich sprachen wir nicht laufend davon, aber ich glaube, dass jeder von uns beinahe täglich Bilder dieses Aufenthaltes im Kopf hatte. In meinem Fall waren es die Bilder des Sees und des schmalen Flusses und damit die Bilder vom Schwimmen, daneben aber auch die Bilder der weiten, oft bis in die Nacht ausgedehnten
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