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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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manchmal nur wenigen Tagen, manchmal aber auch mehreren Wochen fanden zwischen meinem achten und vierzehnten Lebensjahr statt, jedes Jahr planten Vater und ich unsere Aufbrüche genau, und jedes Jahr blieb meine Mutter in Köln oder auf dem Land zurück, um französische Chansons zu hören, Bücher zu lesen, sich mit ihren Geschwistern, Freundinnen und Verwandten zu unterhalten und das Leben einer Frau zu führen, die einen unverwechselbaren Lebensstil pflegte, der zwar von vielen anderen Menschen als »schön« empfunden und daher manchmal sogar bewundert wurde, auf langen Reisen jedoch oft hinderlich wirkte.
     
    Und mir?! Wie erging es mir nach meiner Rückkehr vom Land? Ich besuchte weiter dieselbe Volksschule wie bisher, kam jedoch in eine andere Klasse und erhielt durch diesen Klassenwechsel nun eine Lehrerin. Es handelte sich um eine kleine, schwarzhaarige und noch sehr junge Frau, die sich als ein Glücksfall herausstellte, weil sie einen ganz anderen Unterrichtsstil hatte als die jähzornige Lehrer-Figur, die mich zuvor unterrichtet hatte.
    So verging kein Vormittag, ohne dass sie die große Klasse in kleinere Gruppen eingeteilt und diesen Gruppen bestimmte Lern- oder Spielaufgaben gestellt hätte. Gerade dieses Arbeiten in kleinen Gruppen kam mir sehr zugute, da mir zum einen von anderen Schülern, zum anderen aber von der Lehrerin selbst in einem kleinen Kreis besser geholfen werden konnte, wenn ich etwas nicht verstand.
    Überhaupt war die Atmosphäre in meiner neuen Klasse viel angenehmer als in der alten. Meine Mitschüler akzeptierten sofort, dass ich noch nicht so flüssig sprach wie sie, ja sie gaben sich sogar Mühe, mir mit bestimmten Worten beizuspringen, wenn mir die passenden nicht sofort einfielen. Auch das ewige Rempeln, Schlagen, Verhöhnen und Verspotten kam nicht mehr vor, vielleicht auch deshalb, weil ich nun bei allen sportlichen Veranstaltungen mitmachte und in einigen Wettbewerben wie Laufen, Springen und Schwimmen sogar zu den besten in der Klasse gehörte.
    Seltsamerweise kam ich mit meinen früheren Mitschülern kaum noch in Kontakt, ja ich vermutete sogar manchmal, dass sie gar nicht begriffen, dass ich derselbe Mensch war wie jener blasse und nur in seiner eigenen Welt lebende Schüler, der die Schule vor einiger Zeit verlassen hatte. Über den an die Schule Zurückgekehrten hieß es dagegen, dass er vom Land käme, diese Formulierung erweckte den Eindruck, ich sei mit meinen Eltern vom Land nach Köln gezogen, vielleicht dachten viele also, sie hätten einen ganz anderen Menschen vor sich, niemand sprach mich jedenfalls auf die Vergangenheit an, zudem gehörte ich ja inzwischen auch in eine andere Klasse und wurde deshalb nicht weiter nach irgendetwas gefragt.
     
    So verlief meine Rückkehr an die Schule beinahe reibungslos, ich war in Gestalt einer größeren, kräftigeren und vor allem sprechenden Person an die Schule zurückgekehrt, und damit waren anscheinend auch die Voraussetzungen dafür geschaffen, aus mir einen einigermaßen soliden Schüler zu machen.
    Der einzige Mensch, der über diese Verwandlung überhaupt ein paar Worte verlor, war der Direktor, der mich einige Tage nach meiner Rückkehr zu sich bestellt hatte. Er unterhielt sich mit mir ein paar Minuten, die wir zu zweit in seinem Direktorenzimmer verbrachten, er tat freundlich und besorgt, er erkundigte sich, womit ich die Zeit auf dem Land verbracht habe, verabschiedete mich dann aber mit dem Satz: Ein begnadeter Schüler wird aus Dir nicht mehr werden, aber die Klasse könntest Du jetzt vielleicht schaffen, ich wünsche es Dir jedenfalls.
     
    Dass er noch immer so skeptisch war, lag wohl daran, dass ich auf dem Land zwar begonnen hatte zu sprechen, mich aber natürlich noch nicht flüssig und mühelos ausdrücken konnte. Vielmehr muss man sich mein Sprechen eher wie die Wiedergabe von eingeübten, ja trainierten Sätzen vorstellen, die ich auf eine durchaus willkürliche Weise mit anderen eingeübten Sätzen verband.
    Insgesamt bewegte ich mich also noch in einem starren sprachlichen Kosmos, in dem zwar durchaus so seltene und jeden Gesprächspartner überraschende Wörter wie Eisvogel, Silberpappel oder Speisemorchel vorkamen, in dem es andererseits aber zu wenige Angebote für die Variationen von Sätzen gab. So äußerte ich mich vor allem in der Form von Hauptsätzen, die fast ausschließlich einen stark behauptenden oder feststellenden Charakter hatten, konnte aber kaum Aussagen über meine Empfindungen

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