Die Erfindung des Lebens: Roman
Spaziergänge mit meinem Vater.
In Köln taten wir unsere Pflicht, wir gingen unseren Aufgaben nach, arbeiteten und knüpften im Laufe der Zeit viele neue Kontakte, auf dem Land aber verwandelten wir uns in Naturwesen, die sich auf ganz andere Erlebnisse freuten. Schon beim frühmorgendlichen Aufstehen spürte man dort die Freiheit, ja im Grunde war die Lebenslust sofort da, weil man sich durch nichts und niemanden eingeschränkt fühlte und der Kontakt mit der Natur jeden Tag tiefe Spuren einer inneren Befriedigung und eines stabilen Glücks hinterließ.
Auch meine Mutter, die sich an unseren Spaziergängen nur selten beteiligte und bei den üblichen Arbeiten auf dem Hof und in der Wirtschaft weniger mitmachte als andere, genoss diese Aufenthalte sehr. Selbst auf dem Land unterhielt man sich gerne mit ihr, sie war die Frau, die im Schatten der Gartenwirtschaft hinter einem Bücherstapel saß, anderen aus diesen Büchern vorlas und sich lange mit Freunden und Gästen unterhielt.
Auf dem Hof nannte man diese Stunden Die Sprechstunden , und genau diesen Eindruck machte es auch, wenn Mutter an ihrem kleinen Tisch saß und, ein Bein über das andere geschlagen, ein Buch auf dem Schoß, leicht vorgebeugt, als wollte sie keine Silbe ihres Gegenübers verpassen, ihre Unterhaltungen führte. Manchmal dehnten sich diese Unterhaltungen zu regelrechten Gesprächsrunden aus, und obwohl sich unter deren Teilnehmern oft auch Männer befanden, die durchaus wussten, wie man das große Sagen inszenierte, gelang es meiner Mutter doch fast immer, die Gesprächsführung zu behalten.
Mein Vater beobachtete das alles amüsiert, machte bei solchen Runden aber nicht mit. Niemals wäre ihm in den Sinn gekommen, sich über bestimmte Themen auszutauschen oder sogar über sie zu debattieren, nein, das alles war überhaupt nichts für ihn, bei ihm ging es stattdessen immer um Faktisches und damit um Berichte darüber, wie die Welt sich gestaltete und wie sie von ihren jeweiligen Bewohnern geordnet wurde.
Als ich bereits etwas älter war, habe ich ihm gesagt, dass ich meine Spaziergänge und Reisen mit ihm als eine Art Feldforschung betrachtet hätte, da schaute er mich verblüfft an und sagte: Richtig, genau das war es, das Wort lag mir ein Leben lang auf der Zunge!
Ihren Höhepunkt erreichte diese Feldforschung, als ich in einer Pfingstferienwoche mit ihm wieder täglich auf dem Land unterwegs war und wir dabei mehrere Male, aber ohne jede Absicht, auf ein Höhenplateau zusteuerten, auf dem sich, wie Vater detailliert erklärte, ein sogenannter trigonometrischer Punkt befand.
Ich bemerkte sofort, wie begeistert er von dem weiten Ausblick war, den man von diesem Plateau aus hatte. Der Höhenpunkt wurde von mehreren kleinen, separat stehenden Wäldern eingerahmt, die in ihrer Mitte eine Lichtung frei ließen, von der aus man die gesamte Umgebung überblicken konnte.
Wir ließen uns auf dieser Lichtung nieder, wir aßen dort unseren Proviant, oder wir streckten uns aus, um uns von unseren langen Wegen ein wenig zu erholen. Unten im Tal lag das Dorf, in dem meine Eltern zur Schule gegangen waren, auf der anderen Seite des Hügels aber lag die Gastwirtschaft, in der mein Vater aufgewachsen war. Ich bin sicher, dass er diese ja geradezu aufdringlich bedeutungsvollen Bezüge jedes Mal im Kopf hatte, als wir auf dem Höhenkamm ankamen. Solche Bezüge merkte er sich, und auf sie spielte er gerne an, wenn er etwa behauptete, X sei von Y genauso weit entfernt wie Y von Z, das wiederum von X halb so weit entfernt sei wie Y von X. Mich brachte er mit solchen Rechnungen gern durcheinander, weil er in mir ein Opfer gefunden hatte, das er leicht schwindlig rechnen konnte, er machte so etwas aber nicht nur mit mir, sondern auch mit Erwachsenen, ja sogar mit gestandenen Geodäten und Mathematikern, mit denen er für sein Leben gern Rechenaufgaben löste. Auch das Schachspiel liebte er sehr, weil Schachspielen mit dem Lösen von Rechenaufgaben durchaus vergleichbar war. Ich dagegen mochte Rechenaufgaben und Schachspielen gar nicht, mein seltsames Hirn reagierte auf derartige Aufgabenstellungen überhaupt nicht, sondern stellte sich sofort tot.
Vater konnte mir also lange erklären, dass der Höhenkamm mit dem trigonometrischen Punkt vom Haus seiner Eltern genauso weit entfernt sei wie vom Haus der Eltern meiner Mutter, so etwas vergaß ich sofort wieder, weil ich es mir nicht vorstellen konnte. Sagte er dagegen, dass wir nun wieder auf
Weitere Kostenlose Bücher