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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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sie musste um ihre Lesevorlieben wissen, ja sie musste wohl auch über einige Details ihres Privatlebens informiert sein. Das aber gelang ihr, ohne dass ihre Gesprächspartner es merkten, denn meine Mutter konnte sich mit anderen Menschen auf eine so leichte, lockere und angenehme Weise unterhalten, wie ich es in meinem Leben bei kaum einem anderen Menschen erlebt habe.
     
    Man muss sich nun aber vorstellen, mit welchen Kontrasten ich nach unserer Rückkehr nach Köln zu leben hatte. Hatte ich zuvor jahrelang nicht nur darunter gelitten, dass meine Mutter kein einziges Wort sprach, sondern vielleicht noch mehr darunter, dass sie sich beinahe allen Kontakten mit anderen Menschen entzogen hatte, so erlebte ich jetzt eine Mutter, die nicht nur sprach, sondern sich beinahe unentwegt unterhielt und von einer so verblüffenden Freundlichkeit war, dass sich manche Menschen sogar danach drängten, mit ihr zu sprechen.
    Ich höre Sie so gerne reden … - so etwas bekam nun ausgerechnet meine zuvor stumme Mutter zu hören, die auf solches Lob gar nicht reagierte, sondern einfach in ihrem melodiösen, warmen Tonfall weitersprach, dessen besondere Tonlage ich erst viel später als eine Folge ihrer sehr guten französischen Sprachkenntnisse begriff. Die französische Sprache und die französische Musik – meine Mutter liebte das beides seit ihrer Jugend, sie hatte damals eine gewisse Zeit ihres Lebens im Elsass verbracht und dort ihr Französisch verbessert.
    Dabei hatte sie aber anscheinend nicht nur eine bestimmte Musikalität der Aussprache adaptiert und sich einen ungewöhnlich weichen und tiefen Sprachton angewöhnt, sondern auch eine Vorliebe für den, wie sie es nannte, schönen Satz entwickelt.
    Der Satz, den sie für einen schönen Satz hielt, war gar kein besonderer Satz, sondern ganz einfach ein vollständiger Satz in einem abgerundeten Schriftdeutsch, dessen Formulierungen dazu führten, dass man Mutters Sprechen fast immer für ein Erzählen und weniger für ein Behaupten hielt. So gelang es ihr nur mühsam, einen knappen und auf den Punkt und die Pointe hin zu sprechenden Dialog zu führen, sie brauchte vielmehr Zeit, viel Zeit, sie holte aus, erinnerte sich, machte Umwege, streute kleine Exkurse ein, und das alles in einer Sprache, die sich keiner knappen Wendungen, sondern abgerundeter Formulierungen bediente.
     
    Erst viel später habe ich für ihre Sprechweise eine genauere Erklärung und auch eine Bezeichnung gefunden. Während ihres Französisch-Unterrichts im Elsass hatte meine Mutter nämlich an rhetorischen Übungen teilgenommen, wie sie in Frankreich für junge Französinnen selbstverständlich waren. Diese Übungen umfassten nicht nur Übungen im korrekten und eleganten Ausdruck, sondern griffen auch auf ein Standard-Repertoire bestimmter guter Formulierungen und sprachlicher Preziosa zurück. Wissbegierig wie sie war, hatte meine Mutter all diese Formulierungen und Wendungen aufgeschnappt und keine Ruhe gegeben, bis sie ihren französischen Mitschülerinnen in der Kenntnis und sogar im Gebrauch derartiger rhetorischer Formeln ebenbürtig war.
     
    So war sie bereits in ihren jungen Jahren eine Rhetorikerin geworden, die Freude daran hatte, sich gewandt und lebendig auszudrücken. Und ausgerechnet diese Rhetorikerin hatte nach dem Verlust von vier Söhnen die Sprache verloren!
    Ich aber erlebte nach all den damit verbundenen, stummen Jahren nun das genaue Gegenteil davon: Jetzt nämlich lebte ich mit einer Mutter zusammen, die beinahe ununterbrochen sprach, und das auf eine Art und Weise, die mich von Anfang an in einen gewissen Bann zog. Immer wieder bat ich meine Mutter, mir etwas vorzulesen oder mir etwas zu erzählen.
     
    Auch mein Vater kam von unserem Aufenthalt auf dem Land verändert zurück. War er vorher der treu sorgende, pflichtbewusste und hilfsbereite Familienvater gewesen, der sich um all die Details kümmerte, die Mutter und Sohn nicht allein bewältigen konnten, so färbte Mutters neu erstandene sprachliche Eleganz jetzt auch auf ihn ab. Diese Eleganz machte ihm nicht nur gute Laune, sie ließ ihn insgesamt noch um einige Grade lebendiger und lebenslustiger werden.
    Hatten wir uns früher in einem relativ kleinen Terrain der Stadt bewegt, so konnten unsere Ausflüge und Wochenendfahrten nun gar nicht weit genug gehen: Auf nach Holland! Auf an den Mittelrhein! Auf in den Rheingau und nach Franken!
    Während solcher Reisen stürmte Vater mit einer geradezu gnadenlosen Lebenslust voran,

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