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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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die Höhe gingen, von der aus man das Sonnenpanorama sehen könne, wusste ich sofort, was er meinte. Sonnenpanorama war eines der dunklen, magischen Wörter, die ich so liebte, während geometrische Angaben zu jener Welt gehörten, die mir wohl für immer verschlossen bleiben würde.
     
    Auffällig war jedenfalls, dass auch mein Vater sich immer wieder von diesem Sonnenpanorama anziehen ließ, dass er die Lichtung mit der weiten Wiese in allen Richtungen ablief, sich länger als nötig in den kleinen Wäldchen aufhielt und schließlich sogar begann, in einem dieser Wäldchen etwas von unserem Proviant zu deponieren. So wurde der Höhenpunkt mit den Tagen zu unserer Höhenstation oder unserem Außenposten, den wir bald so betrachteten, als gehörte er ganz selbstverständlich zu uns und zu unseren Wanderungen.
     
    Am vorletzten Tag dieses Pfingstaufenthaltes bat Vater meine Mutter, uns ausnahmsweise während eines Spaziergangs zu begleiten. Er sagte, dass er ihr das Sonnenpanorama zeigen und dass man dort etwas essen und trinken wolle, die notwendigen Utensilien hatte er ganz gegen seine sonstige Gewohnheit selbst in einem kleinen Korb zusammengestellt.
    Ich sehe Vater genau, wie er mit diesem Korb in der rechten Hand vorausgeht, Mutter und ich machen Witze über seine Planungen, er aber geht stur voran, schaut sich nicht nach uns um und reagiert kein einziges Mal auf unsere Bemerkungen. Nach einer Weile kommt es uns sogar so vor, als stimmte mit ihm etwas nicht, Josef, ist was mit Dir? , fragt meine Mutter zum Beispiel, aber sie erhält keine Antwort und keine Auskunft.
    Vater geht vielmehr voran, als grübelte er über etwas nach oder als ginge er allein gegen einen schweren Sturm an, erst als wir auf dem Sonnenpanorama ankommen, atmet er durch, bleibt stehen und bittet uns, auf einer Decke Platz zu nehmen, die er nebenbei auch noch mit hinaufgeschleppt hat. Mutter und ich – wir machen weiter unsere Witze, denn Vater ist seltsam feierlich und wirkt gleichzeitig etwas abwesend, Mutter vermutet, dass er uns jetzt einen längeren Vortrag über Land und Leute halten werde, und als Vater zu sprechen beginnt, hört es sich so an, als habe sie mit dieser Vermutung recht gehabt.
     
    Vater steht nämlich vor uns und erklärt das Terrain, er deutet auf die umliegenden Orte, er zeigt uns die Straßen und Verbindungen zwischen den Dörfern, die wir nur undeutlich im tiefen Maigrün erkennen. In etwa einer Viertelstunde geht er die gesamte Umgebung durch, benennt die Hügel, dreht sich im Kreis, spricht von den Verkehrsverbindungen früher und jetzt und erläutert dann die Lage der größeren Höfe in der Umgebung, zu dem einen gehört Land in der Größe von soundsoviel Hektar, zum anderen in der Größe von soundsoviel, hier gab es einmal einen Erbschaftsstreit, und dort gehörte das Land einmal einem jungen Aufschneider, der es, ohne dass seine Brüder davon wussten, parzellenweise an Jagdfreunde aus dem Rheinland verkaufte.
    Dann aber macht er eine Pause und stellt den Korb auf unsere Liegedecke, Vater hat alles dabei, was die Gastwirtschaft zu bieten hat, frische Leber- und Blutwürste, Kartoffelbrot, frischen Käse und Butter und dicke, schwere Radieschen und große, feste Tomaten und eingelegte Gurken vom letzten Jahr. Es gibt kühles Bier, auch Mutter trinkt sogar ein Glas kühles Bier, und ich, ich bekomme ein Glas Libella -Limonade, ebenfalls gut gekühlt.
     
    Was ist denn bloß heute los?, fragt Mutter eher rhetorisch, denn sie ahnt bereits, dass sie von Vater keine Antwort erhält, und als er wirklich nicht antwortet, sondern nur die Flaschen öffnet und uns einschenkt, beginnt sie leise zu summen, ja, ich weiß genau, was sie summt, sie summt genau jenes Chanson, das sie auch damals während ihres Lustbads im See gesummt hat. Und weil ich mich an dieses Summen genau erinnere und die Noten im Kopf habe, summe ich mit, es ist, glaube ich, das erste Mal, dass ich so etwas summe, aber das fällt Mutter nicht auf, nein, sie bemerkt wirklich nicht, dass ich ein großer Kenner und Liebhaber gerade dieses Chansons bin, von dessen Text ich allerdings kein einziges Wort verstehe.
     
    Vater stößt aber nun mit uns an, und dann sagt er, dass er sich über unsere gute Laune sehr freut, und dann leert er sein Glas in einem Zug, reckt sich ein wenig in die Höhe, geht sogar für einen Moment auf die Zehenspitzen und erklärt: Genau hier, meine Lieben, werden wir bauen, ich habe die Pläne bereits im Kopf.
    Mutter summt

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