Die Erfindung des Lebens: Roman
nicht mehr, sie antwortet nicht, und ich kann mir nicht richtig vorstellen, wie man es fertigbringen könnte, ein Haus auf dieser einsamen Lichtung zu bauen. Gut vorstellen kann ich mir dagegen, was wir nun zu hören bekommen, und ich habe recht, ich habe es mir ganz richtig vorgestellt: Vater geht jetzt mit uns das gesamte Terrain ab und entwirft nicht nur einen Plan für ein einzelnes Haus, sondern einen Plan für den gesamten Raum, in dem wir uns befinden. Alles hat er im Kopf, jedes Detail, von der Farbe und Form der Dachziegel bis hin zur Beschaffenheit der Steinplatten rings ums Haus.
Im Grunde geht es aber gar nicht um dieses Haus, das Haus ist lediglich eine kleine räumliche Form unter vielen anderen räumlichen Formen, denn zum Haus gehören, wie er sagt, die angrenzenden Wälder, zwei Äcker, die Lichtung sowie die westlichen und östlichen Zufahrtswege. Die gesamte Lichtung wird sich einmal in einen großen Hanggarten verwandeln, die Wälder sollen durchforstet und gelichtet werden, und auf den Äckern werden wir Kartoffeln und Rüben anbauen, ganz zu schweigen von den kleinen Gemüse- und Gewürz-Rabatten in der angeblich windstillen Partie hinter dem Haus, in der es neben Gemüse und Gewürzen übrigens auch einen Steingarten geben wird …
Während Vater spricht und gar nicht mehr aufhören will, kommt mir aber immer wieder ein Wort in den Sinn, das ich gerade irgendwo gelesen habe, es ist das Wort Phantasie und damit bereits vom Klang her ein Wort, das ich mag und unter die dunklen und magischen Wörter einordnen würde. Was Vater erzählt, das ist eine Phantasie , denke ich und meine damit, dass es nicht so richtig klar ist, ob er von etwas Wirklichem, Möglichem oder ganz und gar Ausgedachtem spricht.
Ich selbst kann das alles sowieso nicht entscheiden und erst recht nicht übersehen, so etwas muss Mutter tun, daher schaue ich sie an und warte darauf, dass sie etwas sagt. Ich erwarte, dass sie etwas Ablehnendes sagt oder einen Scherz über diese weit ausholende Phantasie-Konstruktion macht, sie aber sagt nur: Wir sollten kein allzu großes Haus bauen, sondern vor allem ein Haus für uns Drei …
Genau in diesem Moment begannen die Planungen für all das, was ich Die Familienphantasie genannt habe und was dann wenige Jahre später zunächst als eine Art Feriendomizil verwirklicht wurde: der große Hanggarten, die Wälder, die Beete und Rabatten, ein kleines Haus für uns drei, dazu noch ein Blockhaus für meinen Vater und sein Büro, die schmalen Gehwege und Pfade und dazu von allen Seiten aus ein geradezu überwältigender Blick auf das umgebende Land.
An diesen Planungen und ihrer allmählichen Durchführung waren wir alle drei beteiligt: Vater war so etwas wie der Architekt und der Koordinator, Mutter kümmerte sich um die Stimmungsmomente und die Atmosphären der Landschafts- und Gartengestaltung bis hin zu den Sitzplätzen sowie den großen und kleinen Gärten, und ich brachte meine Ideen mit ein, indem ich mir allerhand Spielplätze im Haus und im Freien und vor allem einen Raum für einen Flügel wünschte.
In den späten fünfziger Jahren war unsere Familie so weit, sich Gedanken über eine solche Planung machen zu können. Sie galt einem Gelände, das den labilen Grund, auf dem wir uns vorerst noch bewegten, sichern sollte. Die Familienphantasie war das Projekt unserer allmählichen Gesundung, an ihm war abzulesen, was wir uns alles zutrauten und wie wir in Zukunft leben wollten. Natürlich kam ein vollständiger Umzug auf dieses Gelände vorerst nicht in Frage, an eine derartig endgültige Aktion hatten wir aber auch gar nicht gedacht.
Die Familienphantasie war vielmehr die Planung eines Raums, in den wir uns flüchten konnten, wenn uns danach war. Es war ein einsamer Raum im Abseits, unzugänglich für andere, ja es war im Grunde der Raum einer geplanten und dann mit viel Energie aufgebauten Idylle. Wenn wir in Köln etwas Schönes entdeckten, sagte daher oft einer von uns, dies sei etwas für unser Domizil.
Das Domizil war die Bezeichnung, die wir alle Drei diesem Märchenraum gaben, ich selbst aber nannte ihn für mich immer nur Die Phantasie und später, als ich in der Jugend auf Distanz zu diesem Raum ging, weil ich ihn in diesem Alter einfach zu schön und zu geschlossen fand: Die Familienphantasie.
Die Familienphantasie entstand in jahrelanger Arbeit gegen unsere Ängste und Sorgen und auch gegen die Erinnerungen an die Vergangenheit. Und doch hinterließ
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