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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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diese Vergangenheit auch in diesem Schutzraum ihre Spuren, denn es gab in ihm viele kleine Verstecke und Fluchtmöglichkeiten mit absonderlichen Behausungen sogar für den Ernstfall.
    Den Ernstfall nämlich hatten wir trotz all unserem Hang zur Idylle, zur Abschottung und zur Stille natürlich nicht vergessen, nein, wir hatten gar nichts vergessen. Wir waren zwar auf dem Weg der Gesundung und taten alles nur Mögliche, um dabei voranzukommen, aber wir erlebten auch Rückfälle in Verhaltensweisen früherer Zeiten. Manchmal resignierte Mutter zumindest für einige Tage, dann zog sie sich in unsere Wohnung zurück und sprach kaum ein Wort, und manchmal wurde ich in der Schule aufgerufen und brachte vor lauter Stottern kaum eine Silbe über die Lippen.
    Unter der Oberfläche waren wir also noch immer verwundet, beschädigt und nicht selten auch hilflos, nach außen hin aber wollten wir das nicht mehr zu erkennen geben. Manchmal schämten wir uns sogar, wenn wir wieder als jene hilflosen Gestalten dastanden, die wir längst abgestreift geglaubt hatten. In solchen Momenten erinnerten wir uns an unser Domizil und fuhren dann wenigstens für ein Wochenende aufs Land.
     
    Mitten in dem weiten Terrain, das wir erst so ausführlich zu dritt geplant und auf dem wir dann gebaut haben, steht heute ein kreisrundes, doppelstöckiges, erst nach dem Tod meiner Eltern entstandenes Holzhaus, das sein Licht nur vom Dach her bezieht, weil es keine Fenster besitzt. Statt der Fenster gibt es durchlaufende Wände, die vom Boden bis zur Höhe mit Archiv-Kästen gefüllt sind. In diesen Kästen befinden sich meine Schreibbücher und all das Material über meine Familie und mich, das ich seit Jahrzehnten gesammelt habe.
    Jedes Jahr wächst dieses Archiv um mehrere Meter, inzwischen ist es an allen Seiten des Holzhauses so hoch, dass ich in den ersten Stock steigen muss, um all die vorhandenen Kästen zu übersehen. Wenn ich dort oben ankomme, schaue ich hinab auf das ebenfalls kreisrunde, leere Zentrum des Hauses. In diesem Zentrum steht ein schwarzer Flügel, der, von oben angestrahlt, den Eindruck eines Bühnenraums komplettiert. Die Bühne ist menschenleer, aber der angestrahlte Flügel erweckt die Illusion, gleich werde ein Pianist erscheinen und zu spielen beginnen.
     
    Ich habe viele Jahre bloß auf diesen Flügel hinabgeschaut und seine Tasten nicht berührt. Ich habe mich in einen Winkel dieses seltsamen Baus gesetzt, ein Buch gelesen oder Musik gehört. In diesem Haus kann man so laut Musik hören, wie man will, es gibt keine Nachbarn.
    Wer das Terrain aber einmal in seiner vollen Ausdehnung überschauen möchte, sollte das am besten aus der Luft tun. Von dort oben würde man lauter dichte Laubund Nadelwälder erkennen, als wäre die Natur dabei, die vielen Behausungen zu überwuchern.

27
     
    NUN IST eingetreten, wovor ich mich vor einigen Wochen noch streng gehütet und wovon ich die ganze Zeit Abstand genommen habe: Ich habe nicht nur Kontakt zu meiner römischen Umgebung aufgenommen, sondern ich bin sogar ein Teil von ihr geworden. Seit jenem frühen Abend, an dem ich für Marietta und Antonia den ersten Satz des Italienischen Konzerts von Bach gespielt habe, kreist das Gerücht, ich sei ein in vielen Ländern der Erde gefeierter Pianist.
    Rund um den kleinen Markt hat sich mein Ruf inzwischen so verbreitet, dass ich von wildfremden Menschen begrüßt und auf meine besonderen Fähigkeiten hin angesprochen werde. Die Details meines nicht beabsichtigten Auftritts tun bereits nichts mehr zur Sache und sind daher längst durcheinandergeraten. So haben mich einige Marktbesucher angeblich um Mitternacht spielen gehört, und andere waren bei einem Wohltätigkeits-Konzert im Freien zugegen, das ich direkt auf der vor meinem Wohnhaus liegenden Piazza gegeben habe.
    Längst herrscht auch Unklarheit darüber, was ich eigentlich in dieser wundersamen Nacht gespielt haben soll. Die meisten Optionen gelten Stücken Beethovens, aber auch Mozart und Schumann sind im Gespräch, nur von Bach ist seltsamerweise niemals die Rede. Wenn ich versuche, die Angaben zu korrigieren und erkläre, dass ich lediglich den ersten Satz des Italienischen Konzerts von Bach gespielt habe, kommen auch diese Korrekturen nicht richtig an. Meist fragen meine Gesprächspartner nämlich noch einmal nach und wiederholen korrekt, dass es sich also um das Italienische Konzert gehandelt habe, der Name Bach ist dabei aber nur in seltenen Fällen hängengeblieben, weil man

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