Die Erfuellung
oben ist er nicht, das war mir klar.«
Linda stand auf. Suchten sie nach Michael? War dem Kind etwas zugestoßen? Die Erinnerung an den Ausdruck auf seinem Gesicht ließ ihr keine Ruhe. Schon wollte sie auf den Treppenabsatz hinaustreten, da hörte sie die Stimme ihres Arbeitgebers, der an der Treppe zu stehen schien.
»Wie lange ist er schon weg?«, wollte er wissen.
»Etwa anderthalb Stunden«, erwiderte seine Mutter.
Nun wurde Linda klar, dass sie nicht von Michael, sondern von Shane sprachen.
»Hoffentlich ist er nicht unten in der Bucht!« Die Verzweiflung in Mrs Batleys Stimme war unüberhörbar. »Aber wahrscheinlich ist genau das passiert. Dass er nach all dieser Zeit wieder anfängt! Ich hätte es wissen müssen, so wie er ausgesehen hat, als er aus dem Haus ging!«
»Und jetzt gibst du mir die Schuld.« Ralph Batleys leise Worte klangen bitter.
»Nein, das tue ich nicht, Sohn, aber ich sorge mich. Wenn er trinkt, schafft er es nie über den Küstenpfad bis nach Hause. Du weißt doch, wie er herumhopst, wenn er betrunken ist, und die Nacht ist dunkel. Ich mache mir wirklich Sorgen, Ralph.«
Dann wurde es still, aber Linda konnte sich vorstellen, wie Mutter und Sohn einander ansahen. Dann hörte sie Ralph Batley die Treppe hinunterlaufen. Ein paar Minuten später schlug die Hintertür zu: Er war unterwegs zum Gasthaus in Surfpoint Bay.
Leise schloss sie die Tür und lehnte sich mit dem Rücken daran. Als der Jeep angelassen würde, hielt sie den Atem an. Würde er etwa in der Dunkelheit den Küstenpfad nehmen? Dann wurde das Dröhnen des Motors leiser und verklang schließlich in der Ferne, und sie wusste, dass er den längeren Weg über die Straße eingeschlagen hatte. Sie schloss die Augen und seufzte.
Einige Zeit später hörte sie unten Geschirr scheppern und erinnerte sich an Mrs Batleys Versprechen, ihr etwas aufs Zimmer zu bringen. Sie sprang auf. Sie konnte sich unmöglich so bedienen lassen, Mrs Batley hatte genug zu tun. Außerdem hatte sie ohnehin keinen Hunger.
Da nun keine Gefahr mehr bestand, dass sie Ralph Batley über den Weg lief, ging sie rasch nach unten.
»Das ist sehr nett von Ihnen, Mrs Batley, aber ich möchte wirklich nichts essen.«
»Wir müssen alle essen, Kind.«
»Ich bringe im Moment nichts herunter.« Zögernd streckte sie die Hand aus und berührte Mrs Batleys Arm.
»Wie Sie wollen.« Die ältere Frau wirkte plötzlich sehr müde. Sie sah zu dem großen Fenster, das auf das Meer hinausging, und wechselte abrupt das Thema. »Der Wind nimmt zu. Es wird eine raue Nacht werden.«
»Ja, sieht ganz so aus.«
Nach diesem Versuch, Konversation zu machen, standen sie beide da und wussten nicht recht, was sie als Nächstes tun sollten. Schließlich setzten sie sich wie auf Kommando.
Die Minuten verstrichen. Dann wurde das Heulen des Windes für einen Augenblick leiser, und in der Ferne war ein merkwürdiges Geräusch zu vernehmen. Jemand schien fröhlich zu singen. Als gleich darauf der Jeep in den Hof fuhr, wusste Linda, dass Onkel Shane zurück war. Ein rascher Seitenblick verriet ihr, dass Mrs Batley aschgrau im Gesicht geworden war. Zu Lindas Überraschung eilte sie nicht in die Küche, sondern stand auf und ging zum Kamin. Die eine Hand in die Hüfte gestützt, die andere auf den Sims gelegt, starrte sie bewegungslos in die Flammen.
Linda wandte sich hastig ab. Sie musste verschwinden, bevor Ralph Batley das Haus betrat. Auf keinen Fall wollte sie Onkel Shane betrunken sehen. Als sie durch die Halle lief, hörte sie Shane mit schwerer Zunge in der Küche rufen. »Lass mich in Ruhe!«
Kaum hatte sie den Fuß auf die erste Stufe gesetzt, da kam er auch schon in die Halle gepoltert.
»Mir jagst du keine Angst ein mit deinen Predigten! Ich bin ein erwachsener Mann!«, brüllte er.
Falls er Mrs Batley sah, so nahm er keine Notiz von ihr. Stattdessen schwankte er auf Linda zu.
»Da bist du ja, meine Süße!«, lallte er. »Da ist ja mein liebes Mädchen! Komm, lass uns zum Abschied ein Tänzchen aufs Parkett legen!«
Er hatte sie schon von der dritten Stufe heruntergeholt, als Mrs Batley eingriff und ihn wegziehen wollte. Aber er ließ nicht los, und so stand Linda auf einmal wieder mitten im Zimmer. Aus dem Augenwinkel sah sie Ralph Batley in der Tür, der aber sogleich wieder in der Küche verschwand.
»Setz dich hin, Shane«, rief Mrs Batley. »Hörst du mich? Du sollst dich hinsetzen!«
»Ach, Maggie, hör doch auf! Du machst dir immer Sorgen! Lass mich dir
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