Die Erfuellung
»Wir machen uns wohl besser frisch.« Dabei sah er auf einen Riss in seiner Jacke und berührte vorsichtig sein Kinn. »Kein Wort zu meiner Mutter, vergesst das nicht.« Er sah die beiden anderen an und brachte sie mit einem Schlag in die Realität zurück. »Wir brauchen einen neuen Arbeitsplan. In Zukunft wird jeder von uns einen Teil von Watsons Aufgaben mit übernehmen müssen.«
»So wird’s wohl sein. Ich gehe besser zu Maggie und erzähle ihr, dass ich über meine eigenen Füße gestolpert und gegen die Wand geknallt bin.« Shane lächelte gequält. »Irgendwie muss ich ihr meine dicke Lippe ja erklären.« Als er schon fast zur Tür hinaus war, drehte er sich noch einmal um. »Ist noch was in der Flasche, Ralph?«
»Bedien dich, Onkel«, erwiderte dieser ruhig.
»Danke, Junge.«
Dann waren sie allein in der Küche, und Linda hatte das Gefühl, dass sie sich beide unbehaglich fühlten. Sie zitterte kaum merklich, als er sich vor sie stellte.
»Das mit dem Muschelhorn war merkwürdig, nicht?«
Ihr Herz begann zu pochen. »Ja, sehr eigenartig.«
Sie sahen einander an. Linda hatte den Kopf leicht zurückgelegt, und er strich ihr mit der Hand erneut über die Stirn und glättete ihr das Haar. Das Zittern verstärkte sich, als er ihr eine Strähne hinter das Ohr steckte.
»Bleiben Sie hier sitzen, während ich den Tee mache.«
Sie rührte sich nicht, als er sich abwandte. Selbst wenn sie Lust gehabt hätte, ihm zu helfen, was keineswegs der Fall war, hätte sie seiner Anweisung Folge geleistet. Sep Watsons Angriff hatte sie all ihrer Kräfte beraubt, und dieses neuartige Gefühl hatte den Rest getan. Es war, als würde sich das Spinnennetz um ihr Herz schließen.
5
Zur unchristlichen Zeit von fünf Uhr morgens wurde Linda von einem Wecker aus den Federn getrieben, demselben, der Mrs Batley Jahre lang geweckt hatte. Mit halb geschlossenen Augen und klappernden Zähnen zog sie sich an. Dabei stellte sie fest, dass ihr Rücken und ihre rechte Hüfte immer noch schmerzten, weil sie damit auf den Boden aufgeschlagen war, als Onkel Shane gegen sie geschleudert worden war.
Obwohl noch einigermaßen erschüttert, als sie zu Bett gegangen war, hatte sie sich einen Plan zurechtgelegt. Sie würde so früh aufstehen, wie Mrs Batley es immer getan hatte, die Hausarbeit erledigen und dann in die Milchkammer gehen und ihr Glück mit dem Buttern versuchen. Vielleicht konnte sie auch bei der Arbeit draußen helfen, denn Ralph Batley und Onkel Shane würden praktisch rund um die Uhr beschäftigt sein, bis sie einen neuen Helfer fanden. Als sie kurze Zeit später die Treppe herunterkam, stellte sie verblüfft fest, dass die Lampe bereits angezündet war und im Kamin ein Feuer brannte. Sie hatte keinerlei Bewegung im Haus gehört.
Als sie in die Küche kam, stand Ralph Batley über den Herd gebeugt da. Er fuhr herum. »Was tun Sie denn um diese Zeit hier?«, fragte er scharf. Um ein Haar hätte er sich dabei an dem Dampf, der aus dem Kessel auf dem Herd zischte, die Hand verbrannt.
Sie erwiderte seine Frage mit einer Gegenfrage. »Waren Sie die ganze Nacht auf?«
»Nein, natürlich nicht.« Er stellte die Teekanne auf den Tisch.
»Wie geht es Ihrer Mutter?«
»Na ja.« Er stellte die Tassen neben die Kanne. »Sie stellt immer noch Fragen. Sie glaubt genauso wenig, dass mein Onkel gegen eine Wand gelaufen ist, wie, dass ich mir die Knöchel am Stacheldraht aufgerissen habe und Sie gestern mit einer Gallenkolik von Ihrem Spaziergang zurückgekommen sind. Das kann man auch kaum von ihr erwarten. Als sie Michaels verweintes Gesicht sah, wusste sie sofort, dass etwas nicht stimmte.«
Er reichte Linda eine Tasse, und sie tranken schweigend ihren Tee. Linda wusste, dass Mrs Batley nicht dumm war. Sie selbst hätte es für klüger gehalten, ihr die Wahrheit zu sagen. Höchstwahrscheinlich würde sie später Michael ausfragen, der ihr mit Sicherheit seine Beteiligung an dem Vorfall gestehen würde, wie er es am Vorabend seinem Onkel gegenüber getan hatte. Offenbar hatte der Kleine den Kampf in der Scheune beobachtet und fühlte sich dafür in gewisser Weise verantwortlich. Deshalb hatte er sich im Stall bei Sarah versteckt. Als Ralph Batley ihn dort aufstöberte, hatte er schnell zugegeben, dass er Lindas Worte belauscht und umgehend dem Melker erzählt hatte.
Linda hatte ihren Tee erst halb getrunken, als Ralph Batley schon in seine Jacke schlüpfte. Er stand mit dem Rücken zu ihr. Normalerweise ging er aus der Küche,
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