Die Erfuellung
Edith ist nämlich verschwunden.«
Für einen Augenblick schien das Erstaunen das düstere Misstrauen von Ralph Batleys Gesicht zu wischen. Sie sah, wie seine Lippen ein Wort formten, vielleicht den Namen Edith, aber kein Laut kam aus seinem Mund.
»Ist sie hier?«
»Was?« Das Wort knallte wie ein Peitschenhieb.
»Ja, sie ist seit einer Woche weg. Er hat herausgefunden, dass sie nach Norden gereist ist, und zwar in diese Gegend.« Rouse Cadwell legte eine kurze Pause ein. »Wenn du sie deckst, Batley«, fuhr er eindringlich fort, »überleg es dir gut. Schick sie fort, sonst gibt es Mord und Totschlag. Ich sage dir, er holt sie …«
»Jetzt will ich dir mal was sagen!«, donnerte Ralph Batley. »Wenn er auch nur einen Fuß auf meinen Grund und Boden setzt, gibt es wirklich Mord und Totschlag. Das kannst du ihm von mir ausrichten!«
»Ich habe es nur gut gemeint. Ich wollte dich warnen.«
»Gut gemeint!« Ralph Batley schien dem jüngeren Mann geradezu ins Gesicht speien zu wollen. »Wann hat ein Cadwell es je gut gemeint? Jemand, der Bestechungsgelder in Erdlöchern versteckt, ist zu allem fähig. Du kannst deinem Vater ausrichten, mit Watson kann er nicht mehr rechnen.«
»Wovon redest du? Mein Vater mag seine Fehler haben, aber er würde bestimmt nicht Watson dafür bezahlen, dass er die Drecksarbeit für ihn erledigt.«
»Nein? Frag ihn doch. Gestern Abend steckte in einem Loch in der Nähe des Grenzzauns ein Fünf-Pfund-Schein, heute morgen war er weg. Und jetzt verschwinde.«
In diesem Augenblick fühlte Linda Mitleid mit Rouse Cadwell, der offenkundig nicht in feindlicher Absicht gekommen war. Sie sah, wie sich seine Kiefer anspannten, als er eine scharfe Erwiderung herunterschluckte. Dann wandte er sich abrupt um und ging zum Tor. Ralph Batleys Blick war nicht gerade anklagend – zumindest musste er wissen, dass sie sich nicht auf seinem Hof mit Rouse Cadwell verabredet hatte –, aber seine Züge waren so verschlossen wie bei ihrer ersten Begegnung.
»Ich habe Sie gesucht«, erklärte sie ihm. »Ihre Mutter ist aufgestanden und weigert sich, wieder ins Bett zu gehen, obwohl sie ziemlich elend aussieht. Ich dachte, ich hole Sie besser.«
Er blinzelte und schüttelte den Kopf, als wäre er mit seinen Gedanken weit fort gewesen. »Sie ist auf?«, wiederholte er dann und ging auf den Durchgang zu. Linda folgte ihm, den Blick auf seinen Rücken gerichtet.
Eine Stunde später saß Mrs Batley, von Kissen gestützt, in einem großen Sessel am Kamin in der Halle, und Linda stand erneut mit Ralph Batley in der Küche. Im Gegensatz zum frühen Morgen war die Atmosphäre jedoch angespannt. Die Küchentür war geschlossen.
»Sie dürfen nichts darüber verlauten lassen. Sie werden ihr mit keinem Wort verraten, was Rouse Cadwell gesagt hat«, befahl er leise.
»Natürlich nicht, warum sollte ich?« Ihre Stimme klang kühl und unpersönlich.
»Wenn Sie davon hört, wird sie sich furchtbar aufregen.« Er legte eine Pause ein. »Haben Sie das verstanden?«
Sie nickte langsam, ohne den Blick von ihm zu wenden. »Ja.« Sie fühlte sich schwach, müde, ausgelaugt. Am Morgen hatte sie sich ihrer Aufgabe gewachsen gefühlt, obwohl ein Tag voll schwerer Arbeit vor ihr lag. Jetzt wollte sie sich nur noch irgendwo hinsetzen und nachdenken. Hatte sie sich etwa eingebildet, die Umarmung am Morgen wäre von Bedeutung gewesen? Nun, im Grunde hatte sie ja stets gewusst, dass er nur einsam war. Es hatte sich nichts verändert, er war immer noch einsam und verliebt in eine andere. Das musste sie sich ein für alle Mal klar machen: Er liebte nach wie vor diese Edith, und wenn Rouse Cadwell Recht hatte, war sie wieder da. Sie wandte sich ab. »Keine Sorge, ich werde nichts sagen, das Ihre Mutter beunruhigen könnte. Das sollten Sie eigentlich wissen.«
»Ich weiß es ja«, gab er verunsichert zu. »Aber Sie können sich nicht vorstellen, was es für sie bedeuten würde, wenn …« Seine Stimme erstarb.
Sie drehte sich erneut zu ihm um und sah ihn an. »Ihre Mutter wird von mir nichts hören, das ihr irgendwie schaden könnte. Wenn das Ihre einzige Sorge ist, können Sie beruhigt sein.« Sie wusste, wie schroff ihre Worte klangen, aber das war durchaus beabsichtigt. Dann wandte sie sich ab, ließ ihn mit seinem besorgten Gesicht stehen und ging aus der Küche in die Halle. Schade, dass Mrs Batley krank geworden war. Wäre das nicht geschehen, hätte sie die Farm schon längst verlassen und sich einen Kummer erspart,
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