Die Erfuellung
dessen Ausmaß noch gar nicht abzusehen war.
Der Sturm kam am späten Nachmittag auf. Wie häufig bei einem Unwetter ging ihm eine lastende Stille voraus, während sich der Himmel verdüsterte. Schon bald war jedem auf Fowler Hall klar, dass sie eine harte Nacht vor sich hatten. Gegen acht Uhr prasselte der Regen wie Maschinengewehrfeuer gegen die Fenster, und der Wind heulte um das Haus, als wollte er es von den Fundamenten reißen. Onkel Shane, der von einer Böe geradezu hereingeweht wurde, stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür, um sie geschlossen zu halten, bis er den Riegel vorgelegt hatte. Linda, die am Herd stand und in einem Topf mit Suppe rührte, sah auf den ersten Blick, dass der alte Mann durch und durch erschöpft war.
»Könntest du uns vielleicht draußen helfen, Linda? Falls du dich vor die Tür traust, meine ich.« Die Stimme des alten Mannes klang heiser und brüchig. »Das Vieh ist unruhig. Einer von uns muss bei Sarah bleiben. Wir mussten ihr Kalb in einer anderen Box unterbringen, weil wir Angst hatten, dass sie es in ihrer Panik niedertrampelt. Sarah konnte Unwetter noch nie leiden, und jetzt kann man sie sogar bei diesem Wind brüllen hören. Wenn du eine Weile bei ihr bleiben könntest, wäre uns sehr geholfen. Hier ist eine Laterne. Wir sind im großen Stall beschäftigt. Die Tiere da sind auch unruhig, aber unser größtes Problem ist das Dach.«
»Natürlich, Onkel Shane. Warum isst du nicht ein wenig Suppe, während ich Mrs Batley Bescheid sage? Auf die Minute kommt es auch nicht an.« Sie füllte ihm Suppe aus dem Topf auf einen Teller. »Michael braucht noch nicht zu Bett gehen«, setzte sie im Hinausgehen hinzu. »Er ängstigt sich so, dass er ohnehin nicht schlafen kann. Da bleibt er besser bei seiner Großmutter.«
Obwohl sie sich nur wenige Minuten bei Mrs Batley aufhielt, war Shane verschwunden, als sie wieder in die Küche kam. Der Suppenteller war leer. In aller Eile schlüpfte sie in ihren Dufflecoat. Von draußen schob sie ein Stück Holz unter die Klinke, damit die Tür nicht vom Wind aufgestoßen wurde. Erst als sie aus dem Schutz der Wand trat, die den Hof hinter dem Haus vom eigentlichen Wirtschaftshof trennte, traf sie die volle Wucht des Sturmes und riss sie fast von den Füßen. Nur indem sie sich rückwärts gegen den Wind stemmte, gelang es ihr, den Hof zu überqueren. Als sie sich endlich bis zur Tür von Sarahs Stall durchgekämpft hatte, wurde ihr bewusst, wie beängstigend die Gewalt des Sturmes war. Sie hatte auch früher schon Unwetter erlebt, aber mit diesem hier ließen sie sich nicht vergleichen. Der alte Cadwell hatte sie ausgelacht, als sie an ihrem ersten Abend behauptet hatte, an alle Unbilden der Witterung gewöhnt zu sein. Unser Wetter hat es in sich, hatte er gesagt, und jetzt verstand sie, was er gemeint hatte.
Im Inneren des kleinen Stalls drangen ihr unheimliche Laute entgegen, die zusammen mit dem tobenden Sturm nicht gerade beruhigend auf ihre angespannten Nerven wirkten. Doch die Tiere waren so verstört und das Brüllen des kleinen Kalbes so erbärmlich, dass sie ihre eigenen Ängste unterdrückte. Sie stellte sich zwischen die beiden und redete beruhigend auf sie ein, bis sie sich schließlich wie müde Kinder beruhigten.
Etwa eine Stunde später saß Linda, mit dem Rücken an einen Balken gelehnt, im Stall und fühlte, wie ihr die Augen zufielen. Das Toben des Sturmes schien nicht aufhören zu wollen, als sollte das Unwetter für die nächste Zeit ihr Leben bestimmen. Die Luft im Stall roch warm und süßlich. Es herrschte eine Atmosphäre der Geborgenheit inmitten der entfesselten Elemente, die auf Linda wie ein Schlafmittel wirkte. Nicht dass sie so etwas gebraucht hätte, schließlich war sie schon seit dem frühen Morgen auf den Beinen. Als sie fühlte, wie ihr Kopf herabsank und ihre Lider sich schlossen, wehrte sie sich nicht gegen die selige Bewusstlosigkeit, die sie überkam.
Sie wusste nicht recht, ob sie schlief oder träumte, als vor ihren Augen die Tür zum Kuhstall aufgerissen wurde und für eine Sekunde eine Frau mit wirrem Haar und gehetztem Blick im schwachen Licht der Laterne im Eingang stand.
Linda sprang auf. Strohbüschel wirbelten um sie herum, und der hereinströmende Wind drohte, das Dach wegzureißen. Sie lief zur Tür und drückte sie zu. Also hatte sie wirklich eine Frau dort stehen sehen – Traumgestalten öffneten keine Türen. Nachdem sie sich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und ihre Jacke bis
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