Die Erfuellung
Doch trotz ihres Zögerns wusste sie, dass der Grund für Mrs Cadwells Anruf nicht Sep Watson, sondern ihr eigener Sohn gewesen war. Sie wusste ziemlich genau, was sie Ralph Batley sagen wollte: Ihr Sohn war nach Fowler Hall unterwegs, um nach seiner Frau zu suchen. Mit einer Geste, in der sich Ungeduld, Müdigkeit und Verzweiflung mischten, nahm sie ihre Jacke von der Tür, schlüpfte hinein und ging nach draußen.
In der Nähe der Scheune bewegte sich ein Licht. Sie ging darauf zu. »Mr Batley!«
Wie aus dem Boden gewachsen, stand er plötzlich neben ihr. »Ja? Was ist los? Haben Sie …?«
»Ich soll Ihnen nur ausrichten«, unterbrach sie ihn, »dass Sie sofort Mrs Cadwell anrufen sollen.« Sie konnte nicht sehen, wie er darauf reagierte, weil sein Gesicht im Schatten lag, aber es dauerte eine Weile, bis er antwortete.
»Können Sie bitte ins Atelier gehen und eine Weile dort bleiben?« Er legte eine Pause ein, aber als sie nicht antwortete, sprach er weiter. »Es wird nicht lange dauern. Sie brauchen keine Angst zu haben, wir haben da oben alles durchsucht und niemanden gefunden, nur …« Er sprach den Namen nicht aus. »Könnten Sie … bitte?« Seine Stimme klang drängend, aber er schien zu wissen, dass er viel von ihr verlangte. Offenbar hatte sie nicht verbergen können, wie sehr ihr die Besuche bei der Frau im Atelier zuwider waren.
»In Ordnung.«
»Hier, nehmen Sie.« Er drückte ihr die Laterne in die Hand, wobei sich ihre Finger für einen Augenblick berührten. Die seinen fühlten sich kalt und hart an.
Sie zitterte leicht, als sie die große Scheune betrat, und gestand sich ein, dass sie Angst hatte. Obwohl sie die Laterne in der Hand hielt und damit alles ausleuchtete, fürchtete sie jeden Augenblick einen Angriff. Leise und vorsichtig ging sie über den Heuboden, aber als sie nach rechts zur Tür des Ateliers abbiegen wollte, blieb sie wie versteinert stehen. Für einen Augenblick hatte sie sich eingebildet, eine Männerstimme zu hören! Nachdem sie ein paar Sekunden lang den Atem angehalten hatte, schwang sie die Laterne in Richtung Atelier. Da war es wieder, das tiefe Murmeln, das nur von einer Männerstimme stammen konnte. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und die Flucht ergriffen. Dabei hatte Ralph Batley gesagt, er hätte den Heuboden durchsucht. Er kannte seine eigene Scheune und hätte bestimmt keinen Winkel ausgelassen. Aber galt das auch für das Atelier? Dort hatte er sich doch bestimmt zuerst umgesehen. Über die Treppe konnte niemand ins Atelier gelangen. Die Tür war abgesperrt, und ihres Wissens gab es keinen Schlüssel dazu. Jemand hätte von innen öffnen müssen.
Neugier und gerechte Empörung trieben sie voran. Das Gemurmel war immer noch zu hören, allerdings völlig unverständlich. Erst als sie das Ohr an die Tür legte, konnte sie einzelne Satzfetzen unterscheiden. »Eine Hand wäscht die …« und nach einer Weile »Ich halte mein Wort …«
Dann kam Edith Cadwells hastige Antwort, aber sie sprach so leise, dass Linda nichts verstand. Schließlich hörte sie den Mann unwillig »In Ordnung« knurren, und wieder antwortete die leise Stimme der jungen Frau. »Ich bin kein großer Schreiber«, sagte der Mann nach einer Weile.
Linda, die die Stimme kannte, konnte diese Aussage nur bestätigen.
Danach hörte sie nichts mehr, sosehr sie die Ohren auch spitzte. Sollte sie die Tür aufreißen, um Sep Watson zu überraschen? Ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, dass das ein aussichtsloses Unterfangen war. War es möglich, dass Edith Cadwell Ralph Batley vor einem hinterhältigen Angriff der Cadwells schützen wollte? Sie verwarf den Gedanken sogleich wieder. Irgendetwas stimmte hier nicht. Warum hatte Ralph Batley den Melker nicht gefunden, als er die Scheune wenige Minuten zuvor durchsucht hatte? Sollte sie ihn holen und ihm sagen, dass sich Sep Watson im Atelier mit einer völlig unerschrockenen Edith Cadwell unterhielt? Aber was sollte das bringen? Bis er eintraf, war der Vogel in Gestalt von Sep Watson mit Sicherheit ausgeflogen. Nein, am besten riss sie die Tür auf und schrie aus Leibeskräften. Sowohl Ralph Batley als auch Onkel Shane mussten sich in der Nähe aufhalten und würden sie hören. Das erforderte allerdings Mut, und daran fehlte es ihr im Augenblick. Am besten handelte sie sofort, bevor sie es sich anders überlegte. Kurz entschlossen packte sie die Klinke und drückte gegen die Tür, die sich jedoch nicht rührte. Verblüfft stellte
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