Die Erfuellung
sie fest, dass abgeschlossen war.
»Wer ist da?«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Linda sich so weit gefasst hatte, dass sie antworten konnte.
»Ich, Linda Metcalfe.«
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sich die Tür öffnete und Linda in das blasse, eingefallene Gesicht des Mädchens sah. Keine von ihnen sprach ein Wort. Nach einem Augenblick ging Edith Cadwell mit unsicheren Schritten zur Couch zurück.
»Ich hatte solche Angst, als Ralph mir sagte, Watson treibe sich hier herum.« Schwer zu glauben, dass diese verschüchterte Person wenige Minuten zuvor noch in solch energischem Ton gesprochen hatte. »Deswegen habe ich lieber abgeschlossen.«
Langsam betrat Linda das Atelier. Es gab kein Versteck, außer … Ihr Blick wanderte zu dem niedrigen Sofa, unter dem ein Mann jedoch durchaus Platz finden konnte. Die Decken hingen vorne bis zum Boden herab. Von Kopf bis Fuß zitternd, ging sie zur Couch, hob die Decken vom staubigen Boden und breitete sie über Edith Cadwells Beine. Dabei sah sie die junge Frau prüfend an, doch diese protestierte noch nicht einmal mit einer abwehrenden Handbewegung. Als Linda zurücktrat, konnte sie weit genug unter das Sofa sehen, um sich davon zu überzeugen, dass dort niemand versteckt lag. Hatte sie geträumt oder den Verstand verloren? Nein, sie hatte Sep Watsons Stimme tatsächlich im Atelier gehört. Sie warf einen Blick auf die Tür zur äußeren Treppe, die nie geöffnet wurde. Edith Cadwell lag mit geschlossenen Augen da.
»Haben Sie ihn gefunden?«, fragte sie nun mit müder Stimme. »Hat Ralph ihn gefunden?«
Linda zwang sich zu einer ruhigen Antwort. »Nein, noch nicht. Hat er denn gesagt, dass es Watson ist?«
»Ja, das muss er wohl. Wie sollte ich es sonst wissen? Er hat mir erzählt, dass es Ärger gegeben hat. Auf jeden Fall hoffe ich, dass es Watson ist, sonst …« Ihre Stimme erstarb, und sie schloss die Augen. Linda sah sie prüfend an und ging dann um das Sofa herum zur Tür. Im Moment interessierte sie weniger das Schloss als der Fußboden. Das Zimmer war so staubig wie eh und je, weil niemand Zeit gehabt hatte, es zu putzen. Einen halben Meter von der Tür entfernt entdeckte sie Fußspuren im hellgrauen Staub, der vor allem von der Scheune hereinsickerte. Zwischen Fußleiste und Türschwelle waren Schleifspuren zu sehen. Jemand hatte die Tür geöffnet, aber es steckte kein Schlüssel im Schloss. Um sicherzugehen, dass ihre Vermutung richtig war, überprüfte sie den Boden zu beiden Seiten der Tür. Dort war der Staub vor der Fußleiste unberührt.
Als sie sich abwandte, hatte sich Edith Cadwell umgedreht und sah sie über die Armlehne der Couch an. Die sonst so sanften braunen Augen glühten plötzlich fast schwarz und blickten grimmig.
»Was ist los, was suchen Sie?«
»Nichts. Ich habe mich nur gefragt, ob jemand auf diesem Weg hereinkommen könnte.«
»Nein, das ist unmöglich. Die Tür ist abgeschlossen wie immer.«
Linda blieb am Fußende der Couch stehen und starrte in das blasse Gesicht. Sie lügen, hätte sie am liebsten gesagt. Sie haben einen Schlüssel zu dieser Tür, den Sie die ganzen Jahre lang behalten haben. Und zur anderen Tür auch. Vielleicht hätte sie die Worte ausgesprochen, hätte sie nicht die raschen Schritte ihres Arbeitgebers in der Scheune gehört. Hastig wandte sie sich ab, denn sie wollte nicht Zeugin des Theaters werden, das die junge Frau, die sie so durchbohrend ansah, Ralph Batley vorspielen würde.
Sie trafen sich auf halbem Weg im Durchgang. Auf seine rasche Frage, ob alles in Ordnung sei, nickte sie nur knapp und ging weiter. Doch sie war kaum an den Kisten vorbei, als sie seine aufgeregte Stimme hörte und stehen blieb. Offenbar hatte er Edith Cadwell unterbrochen.
»Jetzt hörst du mir mal zu, Edith, das kann so nicht weitergehen. Es muss Schluss sein, und zwar sofort. Ich bringe dich in ein Hotel in Morpeth. Du machst dich besser …«
»Was! Das kannst du nicht tun. Oh, Ralph, ich bin zu krank, um woanders hinzugehen, das weißt du doch. Gib mir bis morgen früh. Bitte, Ralph.«
»Das hat keinen Sinn, Edith. Mrs Cadwell hat mich gerade angerufen. Sie ist einem Nervenzusammenbruch nahe. Bruce streift sei zwei Tagen auf den Feldern umher, weil er glaubt, besser gesagt, weil er weiß, dass du hier bist. Bis morgen früh will er dir Zeit lassen zurückzukommen. Schon gut« – sein Ton wurde schärfer – »ich weiß, dass du nicht zurückgehen kannst und willst. Aber hier kannst du nicht bleiben,
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