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Die Ernte

Die Ernte

Titel: Die Ernte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Hempel
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Obstschale herum stapfte und an den Bienenwachskerzen leckte.
    Meine Katze ist noch so eine – frisst alles außer Essbarem. Ich sehe ihr dabei zu, wie sie eine Tulpe aus einer Vase aussucht. Als ihre Zähne das Blütenblatt durchbohren, scheuche ich sie mit laut zusammenklatschenden Händen weg.
    Ein Augenblick vergeht, und schon ist die Katze wieder auf der Pirsch. Sie kauert sich vor die nächste Blume und kostet das zehn Zentimeter lange Blütenblatt einer Papageientulpe, als würde sie denken:
Die
hier ist die, die ich nicht fressen soll.
    Mein Bruder hält eine Boa Constrictor als Haustier. Die Raubschlange leidet unter Vitaminmangel, deshalb kauft mein Bruder ein großes Gefäß hochwirksames Pulver zur Nahrungsergänzung. Vor jeder Mahlzeit taucht er lebende Mäuse in Wasser und lässt sie in das Gefäß fallen. Er schüttelt das zugeschraubte Gefäß, bis jede Maus eine gesunde Hülle aus den Vitaminen A bis E trägt. Dann verfüttert er die umhüllten Mäuse an die Schlange.
    Als mein Bruder und ich klein waren, mischte ich Erde in sein Rührei. Meine Mutter ließ mich ihn in seinem Hochstuhl auf der Veranda füttern. Ich ließ meinen Bruder dort sitzen und ging in den Garten. Dann kehrte ich mit einer Handvoll Humus aus dem Beet mit den Stiefmütterchen zurück; mit der Erde und allem, was in der Erde so lebte, würzte ich seine Eier.
    Jahrelang bestellte mein Bruder in Fischrestaurants für mich. »Für die Dame den Schnegelsalat Louie«, sagte er zum Kellner. »Und bitte, wenn es keine Umstände bereitet, sie hätte ihr Brötchen gerne
au beurre

    Mein ganzes Leben lang hatte ich Angst vor Milch. Ich glaubte, dass wenn man zu viel Milch tränke, die Knochen der Haut entwachsen würden und die Zähne über die Lippen hinaus.
    Es gibt eine Geschichte, die Mütter ihren Kindern vorlesen, in welcher das kleine Mädchen spricht und die Mutter antwortet:
    – Mutter, was essen Hexen?
    – Milch und Kartoffeln und
dich
, meine Süße.

UNTER KEINEM MOND
    Meine Mutter sagte, sie werde sterben, wenn sie den Kometen sähe.
    Das war kein Aberglaube; es war der sechste Sinn, oder das Zweite Gesicht. Hellseherei. Es war etwas, von dem sie sagte, sie wüsste es, so wie sie sagte, dass sie gewusst habe, in welchem Augenblick sie ihre Kinder empfangen hatte. Es war so, wie wenn sie sagte, dass sie wüsste, welches Lied als nächstes im Radio gespielt würde, wie sie auch wüsste, dass sie noch einmal um den Block fahren musste, bevor an einer mit Autos vollgestopften Bordsteinkante eine Parklücke frei würde.
    Meine Mutter glaubte, sie werde sterben, wenn sie den Kometen sähe.
    Sie buchte für sich und meinen Vater eine Kabine an Bord eines Schiffes, das in der Amazonasmündung den Punkt der Welt kreuzen würde, von dem aus der Komet am besten zu sehen sein würde.
    Es war eine Reise, die meine Mutter ein Jahr im Voraus planen musste. Meine Mutter wählte aus verschiedenen Schifffahrtsgesellschaften ein griechisches Schiff aus, die
Golden Odyssey
von Sun Line, indem sie zunächst laut aus den Hochglanzbroschüren über das erstrangige Unterhaltungsprogramm, die Swimmingpools und das Essen vorlas – das erholsame Vergnügen einer eleganten Kreuzfahrt der Spitzenklasse.
    Sie sagte, dass die eigentliche Attraktion darin bestand, dass Astronomen an Bord sein würden – und nicht einfach irgendwelche Amateure, sondern Weltklasseautoritäten der extragalaktischen Astronomie und Archäoastronomie – sogar Planetariumsdirektoren, Spezialisten für Sternenfotometrie und Ekliptikmeteorologie – sogar ein amerikanischer Astronaut und Autor des populärwissenschaftlichen Buchs
Hat ein Komet die Dinosaurier ausgerottet?
    Diese würden lehrreiche Filme für die Passagiere zeigen und jeden Tag auf See Vorträge anbieten (»Der Flammende Stern und Dschingis Khan – 1222 A.D.«).
    Zwei Wochen, nachdem sie im Katalog annonciert worden war, war diese Kreuzfahrt ausgebucht. Kurz danach wurde ein Infopaket verschickt. In ihm befand sich die Nachricht, dass acht der eingetragenen Passagiere den Kometen bereits bei seinem vorherigen Erscheinen gesehen hatten. Da das sechsundsiebzig Jahre her war, hörte ich, wie sich meine Mutter ihre Schiffskameraden in verschiedenen Stadien der Gebrechlichkeit ausmalte.
    Oft, mein ganzes Leben lang, ging meine Mutter Risiken ein. Sie segelte dem Sturm davon, der streunende Hund biss nicht zu, die wacklige Leiter hielt.
    »Keine Sorge«, sagte sie immer. »Den Kometen werde ich noch

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