Die Ernte
sehen. Dann schüttelte er seinen Kopf. Für einen kurzen Moment hatten sie exakt gleich wie die Augen von Tamara ausgesehen.
»Komm herein, Papa!«, sagte sie bestimmt und ohne einen Anflug von Müdigkeit in ihrer Stimme.
»Hattest du wieder einen schlechten Traum, Liebling?«, fragte Robert, drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und blickte noch einmal in den Wald.
»Nein, Papa. Mama sagt, dass du reinkommen sollst.«
Ihr Gesichtchen war dabei so ernst, dass Robert beinahe lachen musste. Aber eben nur beinahe. »Was sagst du, Ginger?«
»Mama sagt, das Shu…shu-irgendwas« - sie verzog vor Anstrengung ihr Gesicht - »die bösen Leute kommen. Aus dem Wald.«
»Wer?« Tamara konnte nicht angerufen haben, denn sonst hätte er das Telefon läuten gehört. Ginger musste schlecht geträumt haben. Aber warum hatte er solche Kopfschmerzen?
»Bitte komm herein, Papa«, sagte Ginger und war plötzlich wieder ein sechsjähriges Kind, bittend und verwirrt. »Sie sprechen wie die Bäume.«
»Wie die Lorax bei Dr. Seuss?«
»Nein, nicht so.«
»Okay, Schatz. Ich komme.«
Robert blickte sich um und sah nichts als die schwachen Umrisse der Bäume, die sich in der schwachen Morgenbrise leicht bewegten. Aber er ging ins Haus, schloss die Türe hinter sich und versperrte sie dann sogar. Er kniete sich auf den Boden und umarmte Ginger. »Jetzt sind wir sicher.«
»Mami sagt, dass sie das auch hofft.«
Robert wischte sich über die Augen. Es musste wohl der Schlafmangel sein, der ihn ganz durcheinander brachte, der ihn ins Freie zog und ihn dazu verführen wollte, sich in die Blätter unter die Bäume zu legen. Vielleicht träumte er ja gerade und Ginger war nur ein Teil seines Traumes, damit er sich weniger einsam fühlte.
»Sie sprechen wie die Bäume«, insistierte Ginger.
»Aber wenn Frau Sonne kommt, schickt sie die bösen Männer wieder weg.«
»Manchmal. Aber nicht immer.«
Ihre Augen waren viel zu ernst, zu weise und zu tief für die eines Kindes. Er liebte sie so sehr. Er hoffte, dass sie nicht auch ihr ganzes Leben mit dem Fluch einer inneren Stimme leben musste.
»Ich glaube nicht«, sagte sie als Antwort auf seine Gedanken.
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Virginia Speerhorn spürte das Beben in ihrem Schlaf und es weckte sie auf, ohne dass sie wusste, warum sie plötzlich wach lag. Sie dachte, dass die Schlaflosigkeit von der Aufregung vor ihrem großen Tag herrührte.
Sie rieb sich die Augen und blickte auf den Wecker. Schon fünf. Zeit, aufzustehen. Sie wollte sich zuerst duschen und sich dann eine halbe Stunde ihrem Make-up widmen. Dann noch ein schnelles Frühstück und sie würde in der Innenstadt sein, bevor die meisten Touristen unter ihren Decken im Holiday Inn hervorkrochen.
Sie drehte das Wasser auf, bis es dampfte und stellte sich dann unter die Dusche. Während sie sich gründlich einseifte, ging sie noch einmal ihre Rede durch, die sie auf der Bühne halten würde, bevor Sammy Ray Hawkins sein Konzert geben würde. Sie war der Meinung, dass Vorstellungskraft der Schlüssel zum Erfolg war. Sie sah den Moment wie in einem Film.
Sie stand vor dem Mikrofon, blickte auf ein Meer von Touristen, potentiellen Wählern, Magnaten, Gemeinderäten und anderen wichtigen Leuten, und sie alle blickten auf auf auf zu ihr, jeder Kopf erhoben, alle Augen auf ihre Königin, nein Bürgermeisterin, gerichtet und darauf wartend, dass sie dem festlichen Treiben ihren Segen gäbe. Sie würde ihr lavendelfarbenes Kleid mit den Schulterpolstern tragen.
Virginia stellte sich vor, wie sie die Massen mit ihrer starken und von Lautsprechern verstärkten Stimme elektrisieren würde, ganz gleich ob es grobschlächtige Bauern oder Immobilienmakler im feinen Zwirn waren. Selbst die Kinder würden nicht vom Geruch von Zuckerwatte und den bunten Luftballons, die am Ende von tausend Schnüren in den Himmel strebten, abgelenkt sein. Die Frauen würden ihre Eifersucht kaum verbergen können. Selbst Sammy Ray würde neben ihr verblassen. Auch die Vögel würden ihr unnützes Gezwitscher nur für sie unterbrechen.
Alle Aufmerksamkeit würde auf sie gerichtet sein. Es war ihr Lieblingsmoment im ganzen Jahr, es war sogar besser als wenn der Gemeinderat ihrem Budgetvorschlag zustimmte, besser als bei der Parade am vierten Juli im ersten Fahrzeug zu sitzen, sogar noch besser als zum erneuten Sieger der Bürgermeisterwahlen erklärt zu werden
Sie trat aus der Dusche und trocknete sich ab, wobei sie das Stoffhandtuch genüsslich über ihren
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