Die Ernte
Wohnzimmerfenster und eine leichte Brise trug den Duft von frischen Blumen ins Zimmer. Noch immer war die Feuchtigkeit in der Luft spürbar, aber die Sonne war schon stark und sie tauchte die Berge in ein tiefes Blau. Tamaras Blick wanderte über die Bergflanken, über die dunklen Wellen der Berggrate und blieb am grauen Fels des Bear Claw hängen. Sie verspürte ein bekanntes Kribbeln im Körper, aber sie versuchte es zu ignorieren und sich auf die Vorlesung des nächsten Tages zu konzentrieren. Aber der feine Ton ließ nicht locker und schnitt wie ein Messer durch ihre Gedanken.
Shu-shaaa.
Sie hatte keine Ahnung, was das Wort heißen konnte, sie wusste nicht einmal, ob es überhaupt ein Wort war. Sie versuchte es auszusprechen.
»Shu-shaaa.«
Als sie es gesagt hatte, wurde ihre Aufmerksamkeit plötzlich wieder auf den Bear Claw gezogen. Es kam ihr vor, dass sie ein grünes Licht in der Nähe des Gipfels aufblitzen gesehen hatte, so als ob jemand mit einem Spiegel ein Signal geben wollte. Ein geheimes Signal für Tamara.
Nein. Wahrscheinlich einfach eine Spiegelung auf einem Felsen.
Weil du keine Stimmen hörst. Du kannst nicht in die Zukunft sehen. Du siehst keine unsichtbaren Lichter. Du bist NICHT verrückt.
Du bist eine Professorin, eine Mutter, eine Ehefrau, eine übersensible Frau, die einfach eine dickere Haut braucht. Vielleicht war die Aufzählung jetzt nicht in der richtigen Reihenfolge, aber putz dir jetzt die Zähne und fahr ins Tal zur Uni und hör um Gottes Willen auf, ins Nichts zu starren und auf geheimnisvolle Nachrichten zu warten, die in dein Gehirn gebeamt werden.
Wenn sie nicht schon verrückt war, dann würde sie sich selbst bald dazu bringen. Shu-shaaa war wie Karies und ihr Verstand war eine Zunge, die sie neugierig betastete und erforschte, obwohl sich dadurch die Fäulnis nur noch ausbreiten würde, bis das Loch schließlich größer als der ganze Zahn sein würde. Sie schlug das Fenster zu und ging ins Wohnungsinnere, weit weg von den geheimnisvollen Lichtern des Bear Claw.
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»Der ganze Berg gehört einer einzigen Familie, hab ich das richtig verstanden?«
»Jawohl. Und sie wollen verkaufen. Ich hab schon mit einem der Söhne gesprochen. Sein Vater hat schon vor ein paar Jahren einen Teil davon verkauft.«
»Billig?« Emerland gab seinem Assistenten das Fernglas zurück.
Der Assistent schlang es um seinen Hals, wobei sich die Träger mit seiner Krawatte verhedderten. Der Wind zerzauste die Blätter auf seinem Klemmbrett. »Neunzigtausend für zwanzig Hektar. Ist das zu glauben?«
»Die Leute hier in den Bergen sind etwas seltsam. Zuerst verschenken sie es fast und eine Minute später verlangen sie dein ganzes Geld und deinen Erstgeborenen als Anzahlung.«
Emerland starrte nachdenklich auf das blaue, stoppelige Antlitz des Bear Claw. Vor seinem inneren Auge sah er schon drei Skipisten, eine Skihütte mit riesigen Glasfenstern und eine Wohnanlage. Das umliegende Land, das zu steil für Großkomplexe war, konnte in kleine Bauplätze für schicke Holzhäuser umgewandelt werden. Die Umweltschutzbestimmungen würden zwar nerven, aber Emerland wusste schon, wie man sie umgehen konnte. Und wenn es notwendig war, dann musste man eben durch den ganzen Papierkram hindurch. Er hatte Sugarfoot ohne größere Probleme gebaut und hier könnte er das Gleiche machen. Vielleicht mehr als doppelt so groß. Berge, soweit das Auge reicht.
»Mit wem hast du nochmal gesprochen?«, fragte er seinen Assistenten.
»Der Typ heißt Johnny Mack Mull.«
»Aha, Johnny Mack. Was genau hat er gesagt?«
»Es scheint so, als ob sein Vater nicht alles verkaufen wollte. Jetzt, nach dem Verkauf der zwanzig Hektar, ist er zu Geld gekommen und glaubt, das reicht bis zu seinem Lebensende. Und die zwei Söhne bekommen nichts, solange er noch lebt.«
»Wie lange macht´s der Vater noch?«
»Naja, er ist siebenundsechzig, aber gesundheitlich so fit wie ein Turnschuh. Johnny Mack hat mich schon gefragt, ob man seinen Vater nicht für unzurechnungsfähig erklären könnte. Sagt, er sei halb übergeschnappt.«
»Wenn der Vater weg vom Fenster ist, dann müssen wir uns aber mit zwei Besitzern herumschlagen. Was ist mit dem anderen Sohn?«
»Sylvester Mull. Lkw-Fahrer. Lebt in einem Wohnwagen. Zwei Kinder. Wird uns wahrscheinlich keine Probleme machen.«
»Und Herbert DeWalt hat hier schon Land gekauft?«
»Jawohl.«
»DeWalt hat hier sicher etwas geplant. Der gibt sich nie mit einem kleinen
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