Die erregte Republik
Schock vor allem in der Konfrontation mit der lokalen Berliner Medienszene. Denn an der Spree angekommen, trafen die Neuberliner auf eine bereits gut ausgebaute Zeitungs- und Hörfunklandschaft, die freilich ganz anders akzentuiert war, als die, die sie vom Rhein kannten. Statt des betulichen
Bonner Generalanzeigers
gab es mit
B.Z.
(West) und
Berliner Kurier
(Ost) zwei aggressive Boulevardzeitungen, die die Stadt fest im Griff hatten. Hinzu kam eine Privatradio-Landschaft, die mit ihrem wichtigsten Sender
Hundert,6
von dem fanatischen Antikommunisten und journalistischen Autodidakten Georg Gafron beherrscht wurde. Zeitweilig war dieser in Personalunion auch Geschäftsführer des lokalen Fernsehsenders
tvb
sowie Chefredakteur der
B.Z.
und damit der ungekrönte König des Berliner Boulevards. Stimmungsmache gehörte bei Gafron zu den Geschäftsgrundsätzen. Während eines Berliner Abgeordnetenhauswahlkampfs ließ er an öffentliche Gebäude große Plakate mit dem Slogan »Keine Macht den Tätern« kleben – und meinte damit die in Berlin erfolgreiche PDS. Vor allem seinen Sender
Hundert,6
baute er konsequent zur medialen Kampftruppe der Berliner Frontstadt-CDU aus. »Wo unser Haus steht, ist hinlänglich bekannt«, ließ er seine Redakteure wissen. »Etwaige Unklarheiten beseitigt gerne die Chefredaktion.« In seinem Büro im Axel-Springer-Hochhaus an der Kochstraße hatte der DDR-Flüchtling Gafron nicht nur einen aufziehbaren Plastiksoldaten und eine Panzerminiatur aufgestellt, sondern auch die amerikanische Flagge gehisst. Den Beschwerdeausschuss des Deutschen Presserats beschäftigte er regelmäßig mit Schlagzeilen wie »Der Kongo-Killer von Weißensee«, |118| und 1994 kürten die Berliner SPD-Frauen Gafron zum »Chauvi des Jahres«. Eine Zeitlang musste sich
Radio Hundert,6
die Sendefrequenz mit dem linksalternativen Sender
Radio 100
teilen, was zu bizarren Szenen führte. Gafron ließ zum Sendeschluss von
Hundert,6
die Nationalhymne spielen,
Radio 100
begann sein Programm mit dem Geräusch einer abgezogenen Klospülung. Kurz: Die ideologischen Gegensätze in der ehemaligen Frontstadt waren scharf akzentuiert, große Teile des Terrains schon besetzt. Es wurde eng in Berlin. Tissy Bruns berichtet von dem von vielen lang gedienten Korrespondenten erschreckt ausgerufenen Stoßseufzer: »Wir sind hier einfach zu viele.« Und stellt ungerührt fest: »Hinter den glänzenden neuen Fassaden findet ein Statusverlust statt.« 82 Denn statt des exklusiven Austauschs im Hinterzimmer mit den Mächtigen der Politik geriet die Hauptstadtpresse mitten in den Krieg des Bunten und Bizarren auf dem Berliner Medienmarkt. Davon konnte auch die Politik nicht unbeeinflusst bleiben. Der SPD-Politiker Peter Struck erinnert sich mit Gruseln an diese frühe Berliner Zeit: »Über Monate hinweg herrschte eine Atmosphäre, die von Misstrauen zwischen Politik und Journalismus geprägt war. Auch ich beteiligte mich damals an der Legende, dass an eine seriöse Zusammenarbeit mit Journalisten in Berlin nicht zu denken sei. Dies war sicher eine Überinterpretation, aber man konnte nicht leugnen, dass der Umgang miteinander nicht mehr transparent und überschaubar war. Informationsarbeit wurde zum Massengeschäft. Vertraulichkeit drohte auf der Strecke zu bleiben.« 83
Selbst wenn Politiker wie Journalisten unter dem Eindruck des ersten Kulturschocks zu Übertreibungen neigten, bedeutete Berlin ohne jede Frage eine tektonische Verschiebung im lange eingespielten Verhältnis von Politikmachern und Politikbeobachtern. Vieles, was in Bonn zum unausgesprochenen |119| Comment des Umgangs gehört hatte, galt in Berlin plötzlich nicht mehr. Die Sitten wurden ruppiger, der Tonfall rauer. Scheinbar unaufhaltsam hielt der Boulevard Einzug in die Politikberichterstattung. Im Jahr 2000 suchte ein Fernsehmagazin Kokainspuren in den Toiletten des Reichstagsgebäudes und wurde angeblich in 22 von 28 Waschräumen fündig. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse musste daraufhin die Forderung nach flächendeckenden Haartests für alle Abgeordneten abwehren. Drei Jahre später druckte die
Bild
-Zeitung auf ihrer Titelseite ein Foto, das laut Behauptung der Zeitung das Gehirn des PDS-Politikers Gregor Gysi darstellte, der sich einer Hirnoperation unterziehen musste, und titelte: »Gysi zeigt sein Gehirn. Wie gesund ist der PDS-Star wirklich?«
»Jagdfieber«
Die neuen Sitten in der Bundeshauptstadt konnten schon bald von allen eingehend besichtigt werden. Das
Weitere Kostenlose Bücher