Die erregte Republik
»Peinlich ist nichts mehr, wenn man nur damit zitiert wird«, stellte Richard Meng schon 2002 ungerührt fest. 86 Da dabei oft nur der Wunsch der Vater des Gedankens war, kam es immer häufiger zu Pseudo-Scoops: An sich langweilige Geschichten wurden groß aufgeblasen und mit viel Tam-Tam in die Welt gejagt, doch eigentlich verstand kein Mensch, was daran nun so skandalös sein sollte. Meng beobachtete: »Im Journalismus werden nun Nachrichten über die Maßen zugespitzt, um exklusivfähig zu werden. Nichts kann mehr über Nacht zur weiteren Recherche liegen bleiben, weil das Thema sonst von anderen weggeschnappt würde. ›Professionelle Nachrichtenbeschleunigung‹ kann man diese Effekte positiv nennen, negativ ›Nachrichtenmüll ohne reale politische Bedeutung‹.« 87 Das Bewusstsein für das wirklich Wichtige ging darüber zunehmend verloren. Cem Özdemirs Flugreisen, Angela Merkels Dekolleté und Claudia Roths bunte Kleider wurden bald mit genauso viel Aufmerksamkeit bedacht wie der Umbau des Sozialstaats und die zahlreicher werdenden Auslandseinsätze der Bundeswehr. Immer häufiger wurden Lappalien zu großen Geschichten aufgeblasen, die allerdings genauso schnell wieder in Vergessenheit gerieten. Die Medienrotation beschleunigte sich in diesen frühen Berliner Jahren immer mehr und verlangte stetig neues Futter.
Beschleunigung, Verdichtung, Überdehnung
Vieles spricht dafür, dass das Tempo der Politikberichterstattung im politischen Berlin heute einen Scheitelpunkt erreicht hat, an dem bei jeder weiteren Beschleunigungszunahme der Systemkollaps droht. Denn die Abfolge von Nachrichten und |123| Informationen, von News und Nichtigkeiten, die den politischen Alltag in der Bundeshauptstadt prägen, ist mittlerweile so dicht, dass sich selbst die professionellen Manager dieses stetigen Nachrichtenstroms in dem von ihnen gesäten Gestrüpp verheddern. Politik wird in der heutigen Medienberichterstattung zum unendlichen, oft hoch erregten und dennoch immer zähen Fluss von Argument und Gegenargument, von Skandalisierung und nachfolgendem Beschwichtigungsversuch. Welle um Welle rollt durch die Medienkanäle und jedes Mal türmen sich die Wogen höher auf. Zeit zum Zurückschauen hat niemand mehr. Denn kaum ist ein Thema massiert nach vorn gebracht worden, folgt schon das nächste. »Ich kann verstehen, wenn sich Neuigkeiten über Unternehmen, die für Börsenkurse relevant sind, an Sekunden der Veröffentlichung messen, denn die Kunden, die darüber informiert sein wollen, zahlen auch für diese Geschwindigkeit. Die Berichterstattung über politische Prozesse hingegen sollte sich nicht nach Sekunden bemessen, sondern nach inhaltlicher Tiefe. Der Druck, aktuell sein zu müssen, hat fast alles andere verdrängt«, stellt der ehemalige Bundesfinanzminister Steinbrück fest. 88 Zwar gibt es im politischen Berlin viele Profiteure dieser Themen-Hausse: Politiker, die im Erregungsstrom ihre Anliegen leicht platzieren oder unter den Aufmerksamkeitswellen geschmeidig hinwegtauchen können, findige Kommunikationsberater, die angesichts der Vielzahl von Medienkanälen und Themen für ihre Kunden schnell Zugang zur Öffentlichkeit finden, und nicht zuletzt die Medien selbst, denen so der Stoff nie ausgeht. Es gibt aber auch einen Verlierer dieser Beschleunigung: die Demokratie selbst. Denn deren
raison d’être
beruht auf dem Mitnehmen der Menschen, dem Abwägen der Argumente und der sorgfältigen Prüfung von Alternativen. Doch genau dieses genauere Hinschauen darauf, was wirklich ist, der Versuch, für politische |124| Positionen zu werben, sie zu verbreitern und für sie Anhänger zu finden, wird in der aufgeregten Stimmungsdemokratie zunehmend unmöglich. Letztlich führen die ständigen medialen Aktionsattacken zur Verwischung des Politischen, zu seiner allmählichen Unkenntlichwerdung, da niemand mehr sagen kann, was gerade wirklich relevant ist und wofür es sich einzusetzen lohnt. Marcus Jauer hat kürzlich in einer eindrucksvollen Reportage für die
F.A.Z.
beschrieben, wie man sich die Diskursproduktion in der Bundeshauptstadt vorstellen muss: »Im Berliner Betrieb gibt es jeden Tag Sitzungen, Reden, Konferenzen, Termine (…). Jede Frage wird vom Thema bestimmt, über das alle reden und das sich entwickelt, indem eine Aussage die nächste auslöst. In ihrer Emsigkeit wirken Journalisten darin wie Billardkugeln, die, von der Politik gegen die Bande geschossen, im vorauszuberechnenden Winkel abprallen. Nur die
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