Die erregte Republik
Unübersichtlichkeit der Meute führt ab und an zu Handlungen, die sich als unabhängig deuten lassen, aber Willkür sein können.« 89 Jauer resümiert seine Beobachtungen im Epizentrum der Meinungsproduktion folgendermaßen: »Politiker und Journalisten mögen in ihrem Berliner Betrieb an verschiedenen Werkstücken arbeiten, die einen machen Politik, die anderen Journalismus, sie sitzen aber an derselben Werkbank. Die einen nehmen auf, was die anderen abgeben, und umgekehrt. Dieser Widerspruch aus voneinander unabhängig und aufeinander angewiesen sein ist unlösbar, weshalb sich beide Seiten offenbar darauf geeinigt haben, dass keiner fragt, ob etwas berichtet wird, weil es geschieht, oder nur etwas geschieht, weil es berichtet wird.« 90
Taktgeber dieses überhitzten Diskurses sind auch im Zeitalter des Online-Journalismus die Nachrichtenagenturen. Sie sind das Herz des News-Journalismus. Stunde um Stunde, Minute um Minute pumpen Agenturen wie dpa, ddp/DAPD, AFP |125| und Reuters Schlagzeilen, Zusammenfassungen, Dementis und Vorabs von Zeitungen und Zeitschriften in den Kreislauf des Mediensystems. Gelesen werden diese nicht nur in den Redaktionen selbst, die daraus die Basisinformationen für ihre Berichterstattung gewinnen, sondern auch in den Pressestellen und
news rooms
von Parteien, Fraktionen, Verbänden und Unternehmen. Und regelmäßig greifen dort Sprecher zum Telefon, um gegenüber der Agentur eine Stellungnahme zum laufenden Thema abzugeben, die wiederum der vorhandenen Berichterstattung in der nächsten Zusammenfassung hinzugefügt wird und mit etwas Glück den nächsten Politiker aus einer anderen Partei seinerseits zur Stellungnahme veranlasst. Die Medien befördern diese Art von Diskurs aktiv. Wenn eine Zeitung ein freigegebenes Interview mit einem Politiker hat, ist es heute durchaus üblich, dass die Redakteure noch vor Erscheinen andere Politiker anrufen und diese mit den Interviewäußerungen konfrontieren, Gegenstimmen einholen und sich so selbst eine große Geschichte stricken, die am kommenden Tag unter dem Aufmacher »Grundsatzstreit in der Partei XY über Frage Z« das Blatt schmückt. Dabei wusste niemand irgendetwas von einem Streit, bevor die Redakteure zum Telefon griffen. Man muss sich das wie die Herstellung von Zuckerwatte vorstellen: Am Anfang ist ein dünner Faden, am Ende ein dickes Knäuel. Jede Meldung erzwingt die nächste, Thema folgt auf Thema und gebiert schon das nächste. Stets empört sich jemand über etwas, was ein anderer gesagt hat, immer findet sich jemand, der den Angegriffen lautstark in Schutz nimmt, und unausweichlich fällt irgendwann das magische Wort »Rücktritt«.
Obwohl nur ein Bruchteil der Agenturberichterstattung Eingang in die auch dem Publikum zugänglichen Medien findet, ist der Ansturm auf Präsenz in den Agenturen enorm. »Auf Agentur zu laufen« ist – ganz gleich ob mit guten oder schlechten |126| Nachrichten – die Grundbedingung für politische Präsenz in der Mediengesellschaft. Man bietet so Anlass zur Kontroverse und erfüllt damit eine der Grundforderungen des politisch-medialen Betriebs. Worum es dabei geht, ist oft zweitrangig. Denn die Medien sind in erster Linie daran interessiert, durch ihre Berichterstattung Aufmerksamkeit zu erzeugen, das Schlaglicht der anderen Medien auf sich zu lenken. Thomas Leif, als Chefreporter des
SWR
und langjähriger Vorsitzender des Netzwerks Recherche ein Insider des Nachrichtengeschäfts, urteilt: »›Gesprächswert‹ ist heute in den meisten Medien wichtiger als der klassische ›Nachrichtenwert‹ eines Themas.« 91 Und Peer Steinbrück berichtet: »Ich habe Interviews erlebt, in denen die Fragen nur noch das Gerüst für die Aneinanderreihung von künftigen Agenturmeldungen bildeten.« 92 Denn die Agenturen sind die erste Anlaufstelle für Scoops, Skandalenthüllungen und Exklusivmeldungen aller deutschen Medien. Jede Redaktion, die meint, im Besitz einer exklusiven Geschichte oder eines besonders kontroversen Politikerzitats zu sein, wendet sich damit an die Agenturen in der Hoffnung, so ein allgemein diskutiertes Thema zu setzen, das mit dem eigenen Medium in Verbindung gebracht wird: »Wie der
Tagesspiegel
in seiner Sonntagsausgabe berichtet« oder »nach Recherchen der
Ostsee-Zeitung
« – dies sind die bundesweiten Schlagzeilen, die sich selbst verschlafene Provinzzeitungen als Belohnung für selbst recherchierte Aufmacher-Geschichten erhoffen. Der Wettlauf um Präsenz in den Agenturen
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