Die erregte Republik
Attentäters in allen Orten der Erde ein. Aber sie blieb damals noch eine Ausnahme.
Heute erreichen die ersten Meldungen des Tages die Berliner Spitzenpolitiker bereits gegen vier Uhr morgens. Das Lagezentrum des Bundespresseamts ist 24 Stunden am Tag besetzt und spuckt rund um die Uhr Nachrichtenzusammenfassungen und Agenturmeldungen aus, die direkt auf den Smartphones der wichtigsten Kabinettsmitglieder landen. Rund 300 Meldungen empfangen die Mitglieder der Bundesregierung täglich über den Online-Ticker des Bundespresseamts. Ab sieben Uhr morgens steht ein viele Dutzend Seiten dicker Pressespiegel bereit, der bei Bedarf mehrmals täglich aktualisiert wird. Die Kanzlerin und ihr Regierungssprecher bekommen zudem bis zu 70 Eilmeldungen pro Tag per SMS direkt auf ihre Handys geschickt. Spätestens wenn das
Morgenmagazin
seine Frühsendung gebracht hat, beginnen auch die regulären Presseagenturen ihre Arbeit und verschicken Stunde um Stunde mehrere Dutzende Meldungen an Redaktionen, Pressestäbe und Ministerbüros. Selbst spätabends, wenn die Abgeordneten, Staatssekretäre und Angehörigen der Stäbe in den Restaurants und Kneipen von Mitte und Kreuzberg unterwegs sind, vibrieren die iPhones und Blackberrys ohne Unterbrechung. Agenturmeldungen, Google Alerts und Presseberichte gehen ein, werden kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen, weitergeleitet, kommentiert. Oft erhebt sich ein Sprecher oder Büroleiter vom Tisch und eilt nach draußen, um schnellstmöglich seinen Chef über eine Änderung der Nachrichtenlage zu informieren.
|130| Diese Verdichtung der politischen Kommunikation hat erhebliche Konsequenzen für den Ablauf politischer Prozesse. Spätestens seit dem Siegeszug des Online-Journalismus ist die alte Kausalkette von Ereignis und nachfolgender Berichterstattung zerbrochen. Abgeordnete lesen während der Debatten im Bundestag die Live-Ticker-Berichterstattung der großen Online-Medien und kontaktieren die auf der Pressetribüne sitzenden Journalisten per Mail oder SMS, um deren Kommentierung richtigzustellen oder ihnen weitere Fakten und Zitate anzubieten. Fast normal ist es heute, dass schon aus den laufenden Sitzungen der Parteipräsidien oder -vorstände SMS-Nachrichten nach draußen gesendet werden. Peter Struck erinnert sich an Fraktionssitzungen, in denen ihn Ticker-Meldungen erreichten, »die mir von draußen mitteilten, wie im Saal die Debatten verlaufen waren«. 94 Wer die Bundespräsidentenwahl 2009 gewonnen hatte, wussten Online-Nutzer schon vor den beiden Kandidaten Gesine Schwan und Horst Köhler sowie den Wahlmännern und -frauen der 13. Bundesversammlung im Berliner Reichstagsgebäude: Die CDU-Abgeord nete Julia Klöckner, die bei der Stimmauszählung zugegen war, twitterte runde fünfzehn Minuten vor der offiziellen Bekanntgabe des Wahlergebnisses: »Bundesversammlung Leute, Ihr könnt in Ruhe Fußball gucke. Wahlgang hat geklappt!« Vor allem der
Spiegel
hat sich darauf spezialisiert, in seinen politischen Features Kabinettssitzungen so wiederzugeben, als hätten seine Redakteure mit am Tisch gesessen. Da nestelt eine Ministerin an ihrer blauen Bluse, bevor sie die Vorlage ihres Ressorts vorstellt, und ein Minister ist stark erkältet und bekommt von einem Kollegen Taschentücher gereicht. Die privilegierte Zustellung der neuesten Gerüchte direkt vom Politiker- zum Journalisten-Handy garantiert selbst ödem Klatsch eine prominente nachrichtliche Behandlung, durch die dann die Medienkanäle |131| verstopft werden. Die oft beschriebene Modelleisenbahn des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer steht hier nur stellvertretend für viele derartige Geschichten.
Ungleichzeitigkeiten
Hier zeigt sich die schwerste Deformation des Politischen in der hoch beschleunigten Mediengesellschaft: Das zeitliche Band, die Prozesszeit, in der Medien, Politik und Bürger über Veränderungen und Neuausrichtungen des Gemeinwesens, über Reformen und Umorientierungen verhandeln, ist zerrissen. »Die Langsamkeit der Politik liefert wenig sichtbare Gestaltungskraft«, hat Wolfgang Thierse einmal gesagt – und provoziert damit die Ungeduld der Medien. Verweigert sich die Politik dem Drängen nach mehr Geschwindigkeit, steht sie in den Augen der Bürger als unfähig da. Folgt sie dem Wunsch nach einer Beschleunigung ihrer Handlungen, können wiederum die Bürgern, die Politik eben nicht professionell betreiben bzw. beobachten, sondern sich in ganz anderen lebensweltlichen Zusammenhängen bewegen,
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