Die erregte Republik
dieser Umschlaggeschwindigkeit nicht mehr folgen. »Der kompromisslose Präsentismus der medialen Produktionszeit und die lange politische Prozesszeit vertragen einander nicht gut«, stellt Thomas Meyer fest. »Der lange, im Ergebnis stets ungewisse Prozess, der Kern des Politischen, findet vor der Logik der Medien keine Gnade, er wird auf kurze Augenblicke der Spannung, der allerneusten Aktualität geschrumpft oder gänzlich ignoriert.« 95 Ein Diskurs, der sich langsam entwickelt, der Anspruchsgruppen einbezieht und tastend nach Anknüpfungspunkten, Kompromissen und Alternativen sucht, ist so nicht mehr möglich. Die politische Kultur verkommt zur Häppchenveranstaltung, zur leeren Abladung |132| mediengerechter Statements und zur eiligen Verkündung von Projekten, die man durchzuziehen versucht, bevor sie im Sperrfeuer der Medien zerredet werden. Damit aber geht das Räsonnement, das eine wesentliche Grundlage politischer Prozessqualität bildet, mehr und mehr verloren.
Franz Walter und Tobias Dürr haben vor zehn Jahren in einem klugen Buch über die
Heimatlosigkeit der Macht
die Ungleichzeitigkeit von politisch-medialem Modernisierungsstreben und gesellschaftlich-traditionalistischer Beharrungskraft beleuchtet. Die Medien wie auch die Wissenschaft sind Walter und Dürr zufolge auf die ständige Entdeckung von Neuigkeiten ausgerichtet – ein Grund, warum zum Beispiel die Soziologie mit immer neuen Moden, Lebensstilen, Generationen und Gesellschaftsformationen vom Spätkapitalismus bis zur Erlebnisgesellschaft aufwartet. Es ist quasi ihr Beruf, die Gesellschaft ständig neu zu erfinden, die Dinge durch neue Deutungen und das Ausrufen von Megatrends in Bewegung zu bringen. »Dem vorherrschenden Lebensgefühl der meisten Medienmenschen, der ambitionierten Sozialwissenschaftler in ihren Forschungsinstituten und der ehrgeizigen Strategiereferenten in den Parteizentralen mag die Betonung rastloser Veränderung durchaus entsprechen. Sie sind die Jungen, Dynamischen, Gebildeten, Sprachmächtigen und Urbanen dieser Gesellschaft. Ihr Leben ist tatsächlich oft genug so schnell und erratisch wie der gesellschaftliche Wandel, den sie als ubiquitäre Tendenz behaupten.« 96 Gerade der Journalismus spielt hier eine herausgehobene Rolle, denn dieser muss, so der Publizist Lutz Hachmeister, »als Teil der allgemeinen Kulturproduktion und der Bewusstseinsindustrie, ja, einer Art Fashion Industry gesehen werden, weil es immer auch darum geht, das Neue herbeizuschreiben und das Alte bestenfalls zu aktualisieren«. 97 Dieser schnelllebigen Schicht steht aber eine Gesellschaft gegenüber, |133| die schon aufgrund ihrer Traditionen und lebensweltlichen Verankerungen viel langsamer ist, starke Beharrungskräfte entwickelt und oft einen Eigensinn pflegt, der quer zu allen Modernisierungsbemühungen steht. Schon Kurt Tucholsky hat in den 1920er-Jahren in seinem berühmten Aufsatz
Berlin und die Provinz
auf den Unterschied zwischen dem schnelllebigen Diskurstempo der Hauptstadt und dem wesentlich beschaulicheren Zeitmaß der Provinz hingewiesen: »Berlin überschätzt sich maßlos, wenn es glaubt, es sei Kern und Herz des Landes.« 98
Das Problem der Beschleunigung des politisch-medialen Raumes ist nicht so sehr, dass die Menschen mit dem veränderten Tempo nicht mithalten können. Irgendwie gelingt den meisten von ihnen das schon. Die Leute gewöhnen sich an die Rückkehr des Krieges, die private Altersvorsorge und die Zusatzversicherung bei der Krankenkasse ebenso wie an die Parkraumbewirtschaftung in Innenstädten und den Zwang zur energetischen Gebäudedämmung. Doch vielfach können sie kein tieferes Verständnis für die Notwendigkeit der Veränderungen und die Einschnitte in ihre Lebenswelten entwickeln. Das Vertraute, Identitätsstiftende der Traditionsverhaftung geht in dieser Welt rasender Beschleunigung mehr und mehr verloren. Der Wandel des Wortes »Reform« in den letzten dreißig Jahren ist hierfür ein Indiz: In den 1970er-Jahren waren Reformen Ausdruck des Versprechens für den Aufbruch in eine bessere Gesellschaft. Heute dagegen werden sie von den meisten Menschen als Bedrohung eines verteidigungswerten Status quo, als erneutes Durcheinanderwirbeln ihrer mühsam stabilisierten Lebensverhältnisse empfunden. »Gesellschaften sind langsamer als ihre Eliten«, schreiben Walter und Dürr. »Sie sind in mancher Hinsicht auch langsamer als das Tempo ihres eigenen Wandels. Die Menschen passen sich den Veränderungen in
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