Die Erscheinung
Francesca, als sie den hübschen kleinen Raum betrat.
Überall sah er Erinnerungsstücke aus Italien und Frankreich, lauter aufschlussreiche persönliche Dinge. Sie ließen die Frau, die ihm so abweisend und unpersönlich begegnet war, plötzlich in ganz neuem Licht erscheinen. Mittlerweile erzählten auch ihre Augen eine andere Geschichte.
Wie er sich jetzt verhalten sollte, wusste er nicht. Irgendetwas geschah zwischen ihnen - etwas Eigenartiges, Machtvolles. Wenn er Francesca darauf hinwies, würde er sie vielleicht nie wieder sehen. Widerwillig beschloss er, es zu ignorieren.
Als wollte sie diese Entscheidung bestätigen, floh sie in die Küche, um Kaffee zu kochen. Etwas später folgte er ihr. Er hatte sich gefragt, worüber er mit ihr reden sollte, und er glaubte, Sarah Ferguson wäre ein unverfängliches Thema. »Inzwischen habe ich einiges über Sarah Ferguson gelesen. Was für eine bemerkenswerte, tapfere Frau … Auf einem winzigen Schiff, einer Acht-Tonnen-Brigg, fuhr sie von Falmouth nach Boston, zusammen mit elf anderen Passagieren. Unterwegs gerieten sie in gefährliche Stürme, und die Reise dauerte über sieben Wochen. Wenn ich mir das vorstelle, wird mir ganz übel. Aber Sarah überlebte die Tortur und begann in Amerika ein neues Leben.«
Verwundert hob Francesca die Brauen. »Wo sind Sie auf dieses Material gestoßen? Ich habe die Bibliothek des Historischen Vereins gründlich durchforstet und nichts entdeckt. Sind Sie in Deerfield auf etwas gestoßen?«
»Nun - eh - ja …« Vorerst wollte er die Tagebücher nicht erwähnen. »Und Mrs. Palmer hat mir ein paar Zeitungsartikel gegeben. Offenbar verließ Sarah Ferguson ihre englische Heimat und kam hierher, um ihrem brutalen Ehemann zu entrinnen.«
Francesca nickte nachdenklich. Auch sie hatte einen schrecklichen Ehemann in Europa zurückgelassen, allerdings in Paris. Vielleicht war er jedoch gar nicht so grässlich, überlegte Charlie, sondern einfach nur dumm, wie Carole. Oder die beiden hatten woanders gefunden, was sie zu ihrem Glück brauchten. Francesca schien seine Gedanken zu lesen. »Vermissen Sie Ihre Frau immer noch so sehr?«
»Manchmal«, gab er zu. »Wahrscheinlich fehlt mir, was ich zu besitzen glaubte - und was in Wirklichkeit gar nicht existierte.«
Das verstand Francesca sehr gut. Jetzt erinnerte sie sich nur an den glücklichen Anfang mit Pierre - und das furchtbare Ende. Offensichtlich hatte sie die normale Realität in der Mitte vergessen. »Ich glaube, wir alle konzentrieren uns eher auf unsere Fantasie als auf die Wirklichkeit, in der wir leben. Ganz egal, ob unsere Visionen schön oder hässlich sind. Nun kenne ich den richtigen Pierre gar nicht mehr -nur noch den Mann, den ich letzten Endes hasste.«
»So ähnlich geht's mir mit Carole. Gewisse Dinge verschwinden hinter einem Nebel.« Wenn er jetzt zurückdachte, fand er manches besser oder schlechter als die tatsächlichen Ereignisse. Dann kehrte er zu seinem Lieblingsthema zurück. »Sonderbar … Obwohl Sarah in ihrer Ehe so viel erlitten hatte und nichts mehr von den Männern wissen wollte, verliebte sie sich in den Franzosen. Nach allem, was ich herausfand, verbrachte sie mit ihm den wichtigsten Abschnitt ihres Lebens. Und sie hatte keine Angst vor einem neuen Anfang. Deshalb bewundere ich sie.« Seufzend fuhr er fort: »Aber ich frage mich, wie man so was macht.«
»Das könnte ich nicht«, entgegnete Francesca im Brustton der Überzeugung. »Ich weiß es genau, weil ich mich gut genug kenne.«
»Um eine solche Entscheidung zu treffen, sind Sie noch zu jung.«
»Einunddreißig. In diesem Alter hat man herausgefunden, was man sich zumuten darf. Noch einmal würde ich einen so tiefen Herzenskummer nicht überleben.« Vielleicht spürte sie die Anziehungskraft, die zwischen ihnen entstanden war, ebenso deutlich wie Charlie. Und mit diesen Worten ermahnte sie ihn, nichts zu versuchen. Sollte er es trotzdem wagen, würde sie für ewig aus seinem Leben verschwinden.
»Denken Sie noch einmal darüber nach, Francesca.« Würde sie sich anders besinnen, wenn er ihr Sarahs Tagebücher übergab? Dazu war er noch nicht bereit. Vorerst wollte er diesen kostbaren Schatz mit niemandem teilen.
»Zwei Jahre lang dachte ich über nichts anderes nach.« Und dann stellte sie eine seltsame Frage. »Haben Sie Sarah wirklich nie gesehen? Ich meine - in diesem Teil der Welt hört man so viel über Geister, die durch alte Häuser wandern.«
Forschend schaute sie in seine Augen.
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