Die Erscheinung
noch niemand gewagt, ihr diese Frage zu stellen. Sollte sie lügen? Doch sie fand, es wäre nicht der Mühe wert.
»Ja, Sir. Und wer sind Sie?«
»Walker Johnston, Anwalt aus Boston«, stellte er sich vor und stieg steifbeinig ab. Offensichtlich hatte ihn der lange Ritt ermüdet. Aber sie zögerte, ihn ins Haus zu bitten, bevor sie wusste, was er wollte. »Können wir hineingehen?«, schlug er vor.
»Was wünschen Sie, Sir?« Aus unerfindlichen Gründen zitterten ihre Hände.
»Ich möchte Ihnen einen Brief von Ihrem Gemahl übergeben.«
Zunächst glaubte sie, er würde François meinen und dem geliebten Mann wäre etwas zugestoßen. Und dann erkannte sie die Wahrheit. »Ist er in Boston?«, fragte sie tonlos.
»Natürlich nicht - der Earl hält sich in England auf. Ich wurde von einer New Yorker Firma engagiert, die Ihre Spur schon vor einiger Zeit von Falmouth nach Boston verfolgt hat, Madam. Leider dauerte es eine Weile, bis Sie hier gefunden wurden.« Das klang beinahe so, als müsste sich Sarah für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, die sie ihm bereitet hatte.
»Und was wollen Sie von mir?« Plötzlich fragte sie sich, ob Johnston sie mit Hilfe des alten Indianers auf ein Pferd werfen und nach Boston verschleppen würde. Da sie Edward kannte, kam ihr das unwahrscheinlich vor. Sie glaubte eher, ihr Mann hätte ihn beauftragt, sie zu erschießen. Vielleicht war der Besucher gar kein richtiger Anwalt … Kaltes Entsetzen stieg in ihr auf, das sie energisch bekämpfte.
»Ich muss Ihnen den Brief Seiner Lordschaft vorlesen. Gehen wir hinein?«
Als sie sah, dass er erbärmlich fror, gab sie nach. »Also gut.« In der Küche nahm sie ihm seinen feuchtkalten Mantel ab und bot ihm eine Tasse Tee an. Dann gab sie dem alten Indianer, der lieber draußen wartete, ein Stück Maisbrot. Er trug einen warmen Pelz, und der eisige Wind störte ihn nicht.
Von neuen Lebensgeistern beseelt, plusterte sich der Bostoner Anwalt wie ein hässlicher schwarzer Vogel auf, starrte Sarah mit schmalen Augen an und zog den Brief hervor.
»Darf ich selbst lesen, was mein Mann geschrieben hat?« Mit einer gebieterischen Geste, die ihren aristokratischen Rang unmissverständlich bekundete, streckte Sarah eine Hand aus und hoffte, ihre bebenden Finger würden sie nicht verraten.
Nur widerstrebend erfüllte Johnston ihren Wunsch. Sie erkannte Edwards Handschrift sofort. Und der Zorn, der aus seinen Zeilen sprach, überraschte sie nicht. Eine elende Hure sei sie, schimpfte er, Schmutz unter seinen Füßen, wahrlich kein Verlust für das County. Dann verbreitete er sich über ihre misslungenen Versuche, einen Erben zu gebären. Am Ende der ersten Seite wurde sie verstoßen, auf der zweiten an die Tatsache erinnert, dass sie nach seinem Tod keinen Penny erhalten würde, nicht einmal das Vermögen ihres Vaters. Er erwog sogar, Sarah zu verklagen, weil sie die Juwelen ihrer Mutter gestohlen hatte - noch dazu einem Peer, was an Hochverrat grenzte. Damit jagte er ihr keine Angst ein. Da die Engländer nicht mehr in Massachusetts regierten, fühlte sie sich sicher. Und sie wollte ohnehin nie wieder einen Fuß auf englischen Boden setzen.
Mit grausamer Schadenfreude betonte er, sie könne keine zweite Ehe eingehen, ohne sich der Bigamie schuldig zu machen. Sollte sie Kinder bekommen - was infolge ihrer beklagenswerten Konstitution fraglich war -, würden sie als Bastarde durchs Leben gehen. Das alles überraschte sie nicht. Dass sie nicht heiraten durfte, solange Edward noch lebte, wusste sie ebenso gut wie François. Damit hatten sie sich bereits abgefunden, und so stieß Edward nur leere Drohungen aus.
Erst auf der dritten Seite vermochte er sie zu überraschen - und zu erschüttern. Er erwähnte Haversham, den er einen rückgratlosen Wurm nannte, dessen idiotische Witwe und vier traurigen Töchter, was für Sarah erst einen Sinn ergab, als sie weiterlas. Offenbar war Haversham vor sechs Monaten bei einem »Jagdunfall« gestorben. Da sie Edwards Hass gegen seinen Halbbruder kannte, bezweifelte sie nicht, dass er den armen jungen Mann getötet hatte. Vielleicht aus Zorn - oder aus reiner Langeweile. Schweren Herzens las sie den letzten Abschnitt des Briefes, in dem er verkündete, einer seiner Bastarde würde den Adelstitel und das gesamte Vermögen erben. Schließlich wünschte er ihr ewige Höllenqualen und unterzeichnete den Brief mit Edward, Earl of Balfour, als würde sie nicht wissen, wer er war. Doch sie kannte seine schwarze Seele
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