Die Erscheinung
Adelstitels zu berauben«, erwiderte sie lächelnd. »Jetzt bin ich keine Countess mehr und heiße nur mehr Lady Sarah, so wie vor meiner Hochzeit. Hoffentlich bist du nicht enttäuscht.«
»Eines Tages wirst du meine Comtesse sein. Wer war dieser Mann?«
»Ein Anwalt, von Edward engagiert. Er zeigte mir einen Brief, in dem ich enterbt wurde. Doch das spielt keine Rolle. Was viel schlimmer ist - Edward hat seinen Halbbruder getötet.« In knappen Worten berichtete sie, was der Earl ihr geschrieben hatte.
»Dieser Bastard!«, stieß François hervor. »Und jetzt weiß er, wo du bist. Das missfällt mir!«
»Beruhige dich, er wird sicher nicht hierher kommen. Er wollte mich nur demütigen, und er dachte, die Nachricht über Havershams Tod wird mir das Herz brechen. Natürlich bin ich traurig, und ich bedaure die arme dumme Alice, Havershams Witwe, und ihre Kinder. Dennoch überrascht mich das alles nicht. Ich habe schon immer befürchtet, Edward würde seinen Bruder eines Tages umbringen.«
»Ein Glück, dass er dich am Leben ließ. Was vor allem
mein
Glück bedeutet.« Liebevoll nahm François die Frau, die er seine Gemahlin nannte, in die Arme. Er wäre gern zur Stelle gewesen, als der Anwalt sie belästigt hatte. Aber allem Anschein nach hatte sie den Besuch gut verkraftet. Nur Havershams Tod ging ihr nahe.
Der Januar verlief ereignislos, und im Februar führte er sie zu den Irokesen, obwohl immer noch Schnee lag. Für Sarah war die Reise ein faszinierendes Erlebnis. Sie nahmen einige Waren mit, um sie gegen andere einzutauschen, und Geschenke, die sie Red Jacket überreichen wollten. Schon am ersten Tag schloss Sarah Freundschaft mit den Indianerinnen. Nun verstand sie, warum François jahrelang bei den Irokesen gelebt hatte. Die angeborene Würde dieser Menschen, ihre Kultur und ihre Legenden beeindruckten sie zutiefst.
Eines Abends redete eine der weisen alten Frauen leise auf sie ein und hielt ihre Hand. François hatte mit mehreren Stammesbrüdern die traditionelle Pfeife geraucht. Als er zu Sarah ging, erkannte er in der Irokesin die Schwester des Medizinmanns, die selber über spirituelle Kräfte verfügte. Von all den Weissagungen in der fremden Sprache hatte Sarah nichts verstanden, und sie bat ihn, die Worte zu übersetzen. Zu ihrer Bestürzung zögerte er und warf ihr einen seltsamen Blick zu. »Was hat sie gesagt?«, fragte sie erschrocken.
»Dass du Angst hast. Ist das wahr?« Fürchtete sie sich vor Edward? Der Earl konnte ihr nichts antun, denn sie würde nie mehr nach England zurückkehren. »Und sie sagt, du wärst von weither gekommen und hättest viele Sorgen zurückgelassen.«
Das stimmt, dachte Sarah und erschauerte, obwohl sie ihr warmes Kleid aus Hirschleder trug, ein Geschenk der Irokesen. Zudem brannte im Langhaus*, das sie während des Winters bewohnten, ein helles Feuer. »Fürchtest du dich, Liebste?«, fragte François.
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. Doch die alte Frau war viel klüger, als er ahnte. Sie saßen zu dritt vor den Flammen, etwas abseits von den anderen, und die Irokesin sprach weiter.
»Jetzt sagt sie, du würdest bald einen Fluss überqueren, der dich schon immer erschreckt hat. In einem früheren Leben bist du mehrmals darin ertrunken. Diesmal wirst du nicht sterben und das andere Ufer unbeschadet erreichen. Viereckiges langes Giebeldachhaus der Irokesen versichert, wenn du darüber nachdenkst, wirst du ihre Vision verstehen.« Schließlich verstummte die alte Frau. François und Sarah gingen ins Freie, um frische Luft zu schnappen. Beunruhigt starrte er vor sich hin. Die alte Frau war eine weithin bekannte Prophetin, die sich nur selten irrte. »Wovor hast du Angst?« Fürsorglich zog er den Pelzmantel enger um ihre Schultern und drückte sie an sich. Er spürte, dass sie ihm etwas verheimlichte, und das gefiel ihm nicht.
»Vor gar nichts«, log sie, ohne ihn zu überzeugen.
»Irgendetwas verschweigst du mir. Was ist es, Sarah? Bist du unglücklich im Irokesenlager?« In ein paar Tagen würden sie nach Shelburne zurückreiten. Sie hatten mehrere Wochen hier verbracht, und er hatte geglaubt, sie würde sich wohl fühlen.
»O nein, das weißt du doch …«
»Habe ich dich irgendwie gekränkt?« Gewiss, sie führten ein ungewöhnliches Leben. Vielleicht sehnte sie sich nach den anderen Welten, die sie kannte - in England oder Boston? Das bezweifelte er. Hinter ihrer Sorge musste viel mehr stecken. Entschlossen drückte er sie noch fester an sich. »Ich
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